Laborführung

Die Grundlagen

Die neue EU-Medizinprodukte-Verordnung 2020 - Teil 1

© Gerd Altmann/Pixabay.com
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Die neue europäische Medizinprodukte-Verordnung, kurz MDR für Medical Device Regulation, wird in diesem Frühjahr rechtskräftig – was bedeutet das für Dentallabor-Inhaber und ihr Team? Unser Autor Karl-Heinz Martiné erläutert in seiner Beitragsreihe ab dieser Ausgabe, worauf Sie achten müssen. Im folgenden Teil 1 beleuchtet er die Hintergründe der MDR und gibt einen Überblick über die Grundlagen. 

Die Medizinprodukte-Verordnung mit der offiziellen Bezeichnung „EU 2017/745“ stellt Praxis- und gewerbliche Labore vor eine große Herausforderung. Inzwischen steht unmissverständlich fest: Sie tritt am 26. Mai 2020 in Kraft, und zwar für alle Hersteller von Medizinprodukten, und dazu gehören nicht nur gewerbliche Dentallabore, sondern auch Praxislabore. Die Antwort der Bundesregierung auf eine „kleine Anfrage“ der FDP-Bundestagsfraktion im Juni 2019 spricht hierzu unmissverständlich eine klare Sprache: „Ähnlich wie für die Hersteller werden mit der MDR auch die Anforderungen an Sonderanfertiger* erhöht. Besonders hervorzuheben ist hierbei, dass Sonderanfertiger ein Qualitätsmanagementsystem (QMS) gemäß der MDR aufbauen müssen. Besondere Herausforderungen für KMU**, die Sonderanfertigungen herstellen, bestehen in diesem Zusammenhang in den Anforderungen der MDR in Bezug auf die klinische Bewertung (inklusive der klinischen Nachbeobachtung), des Risikomanagements sowie der proaktiven Überwachung nach dem Inverkehrbringen …“

Der Hintergrund

Seit 2008 wurde ein neuer Rechtsrahmen für Medizinprodukte in der Europäischen Kommission diskutiert – 2012 wurden die ersten Entwürfe für den neuen Rechtsrahmen veröffentlicht. Die Grenzen der bis dahin bestehenden Richtlinien (92/43 EWG und deren nationale Medizinproduktegesetze) offenbarten sich in erster Linie durch diverse Probleme mit Implantaten wie beispielsweise Metall- Metall-Hüftprothesen. Mechanisch-korrosiver Abrieb in diesen Prothesen führte zu erhöhten Konzentrationen von Kobalt- und- Chrom-Ionen im Gewebe. Der Hersteller DePuy hatte aus diesem Grund 2010 betroffene Produkte zurückgerufen. Vorangetrieben wurde die Änderung des Rechtsrahmens in erster Linie jedoch durch die Offenlegung einer der größten bisher dagewesenen Medizinprodukteskandale mit etwa 400.000 betroffenen Personen in 65 Ländern – dem Brustimplantat-„PIP-Skandal“ rund um das französische Unternehmen Poly Implant Prothèse, kurz PIP, mit gerissenen oder undichten Implantaten.

Als Reaktion der Europäischen Kommission auf diesen Skandal wurde die 2008 angekündigte Revision des Rechtsrahmens für Medizinprodukte beschleunigt. Die ersten Entwürfe für Verordnungen für Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika wurden am 26. September 2012 von der Europäischen Kommission präsentiert, mit dem vorläufigen Ziel der Übernahme des Entwurfes als Gesetzestext bis Ende 2014. Bis zur endgültigen Verabschiedung der neuen Verordnung dauerte es jedoch bis April 2017.

Es handelt sich dabei um eine Verordnung, die den Schutz des Verbrauchers bzw. des Patienten in ihren Fokus stellt. Es werden europaweit alle medizinischen Wirtschaftsakteure und Gesundheitseinrichtungen miteinbezogen, die für den gesamten Lebenszyklus eines Medizinprodukts verantwortlich sind. Das heißt konkret: Jeder, der am Wertschöpfungsprozess eines Medizinproduktes beteiligt ist, ist für die Vor- und die nachfolgende Stufe (mit-)verantwortlich.

Hersteller von Zahnersatz

  • Abb. 1

  • Abb. 1
    © PROXI.GMBH
Die MDR unterscheidet nicht zwischen Herstellern von Serienprodukten einerseits und Sonderanfertigungen andererseits. Zunächst existieren nur „Hersteller“. Für Sonderanfertigungen z. B. von Zahntechnikern gelten bestimmte Besonderheiten und Einschränkungen, gegenüber Serienprodukten bleibt jedoch die vereinfachte Konformitätsbewertung bestehen. Das Verfahren für Sonderanfertigungen wird in Anhang XIII MDR beschrieben. Somit sind vor allem der Artikel 10 (Hersteller, Abb. 1) und Anhang XIII (Sonderanfertiger) von zentraler Bedeutung für gewerbliche und Praxislabore.

Die Dokumentationspflichten

Die Dokumentationspflichten für Sonderanfertigungen ergeben sich aus Anhang XIII Abschnitt 1 MDR. Es muss wie bisher eine Erklärung erstellt werden, die folgende Angaben enthält:

  • Name und Anschrift des Herstellers sowie aller Fertigungsstätten;
  • eine Erklärung, dass das Produkt ausschließlich für einen bestimmten Patienten oder Anwender bestimmt ist, der durch seinen Namen, ein Akronym oder einen numerischen Code identifiziert wird;
  • Name des Verordnenden und gegebenenfalls Name der betreffenden medizinischen Einrichtung;
  • die spezifischen Merkmale des Produkts, wie sie in der Verordnung angegeben sind;
  • eine Erklärung, dass das betreffende Produkt den grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen gemäß Anhang I MDR entspricht, und gegebenenfalls ein Verweis auf die grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen, die nicht vollständig eingehalten wurden, mit Angabe der Gründe – das bedeutet deutlich weitergehende Angaben als bisher;
  • Die Erklärung muss für einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren nach dem Inverkehrbringen des Produkts aufbewahrt werden.

So weit nicht viel Neues. Neben der Erklärung muss der Hersteller von Sonderanfertigungen eine Dokumentation über die Sonderanfertigung erstellen und für die zuständigen Behörden bereithalten. In dieser müssen neben der Fertigungsstätte bzw. den Fertigungsstätten auch Angaben erfolgen, aus denen die Auslegung, die Herstellung und die vorgesehene Leistung des Produkts hervorgehen, sodass sich beurteilen lässt, ob es den Anforderungen der MDR entspricht.


Empfehlung:

  • Führen Sie eine sorgfältige Dokumentation der Sonderanfertigung. Archivieren Sie Auftragszettel, Dokumente der Vorprodukte und Materialien usw. – einschließlich der Angaben aus der Abstimmung mit dem Zahnarzt und dem Patienten – sorgfältig.
  • Erfassen Sie alle im Produkt verwendeten Materialien, Vorprodukte und Passteile, sodass diese für den jeweiligen Patientenfall nachvollziehbar sind.
  • Führen Sie ein System zur Chargenrückverfolgung (z. B. über Lieferscheine, Chargen- und Losnummern).
  • Nutzen Sie ggf. vorhandene Aufkleber für Passteile für Ihre interne Dokumentation.
  • Bewahren Sie Lieferscheine mit Angaben zu Materialien, Chargen- und Losnummern auf.

Die neuen Anforderungen an Hersteller: Artikel 10 MDR

  • Abb. 2

  • Abb. 2
    © PROXI.GMBH
Was die zukünftig gesetzlich vorgeschriebenen Anforderungen konkret beinhalten, zeigt Abbildung 2 in der Übersicht.

1. Qualitätsmanagementsystem:

Das Qualitätsmanagementsystem (QM) ist ein Konzept zur Einhaltung der Regulierungsvorschriften, das die Einhaltung der Konformitätsbewertungsverfahren und der Verfahren für das Management von Änderungen an den vom System erfassten Produkten mit einschließt. Es muss enthalten:

  • Verantwortlichkeit der Leitung
  • Ressourcenmanagement, einschließlich der Auswahl und Kontrolle von Zulieferern und Unterauftragnehmern
  • Risikomanagement gemäß Anhang I
  • eine klinische Bewertung
  • klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen
  • Produktrealisierung einschließlich Planung, Auslegung, Entwicklung, Herstellung und Bereitstellung von Dienstleistungen
  • Implementierung und Management eines Systems zur Überwachung nach dem Inverkehrbringen gemäß Artikel 83 und Prüfung und Dokumentation der Erfahrungen nach dem Inverkehrbringen laut Anhang XIII MDR; usw.

Die MDR schreibt keine spezielle Norm und auch keine Zertifizierungsverpflichtung vor. Jedes gewerbliche und Praxislabor ist jedoch verpflichtet, ein dynamisches und vor allem „gelebtes“ QM einzuführen, aufrechtzuerhalten und ständig zu verbessern (siehe hierzu Artikel 10 Abs. 9).


Empfehlung:

Sofern Sie bereits über ein (zertifiziertes) QM-System verfügen, beachten Sie bitte, dass dieses nicht automatisch alle Anforderungen der MDR erfüllt. Überprüfen Sie Ihr QM-System insbesondere auf die Anforderungen der MDR zur klinischen Bewertung und zum Risikomanagement.  


2. Risikomanagementsystem (Anhang I MDR):

Die MDR fordert ein Risikomanagementsystem als kontinuierlichen iterativen Prozess während des gesamten Lebenszyklus eines Produkts, der eine regelmäßige systematische Aktualisierung erfordert. Folgende Aufgaben sind dabei zu erfüllen:

  • Einen Risikomanagement-Plan für jedes Produkt (bzw. „Produktfamilie“) festlegen und dokumentieren;
  • Risiken identifizieren, analysieren, bewerten, beseitigen und kontrollieren;
  • die Auswirkungen der in der Fertigungsphase und durch das System zur Überwachung nach dem Inverkehrbringen gewonnenen Informationen sind bezüglich folgender Aspekte zu bewerten:
    - Gefährdungen und deren Häufigkeit,
    - Abschätzung der verbundenen Risiken sowie des Gesamtrisikos,
    - das Nutzen-Risiko-Verhältnis, - die Risikoakzeptanz, und gemäß den neuen Anforderungen anzupassen.


Hinweis:

Hersteller müssen im Rahmen der MDR die Konformität aller Produktbestandteile nachweisen. Hersteller von Medizinprodukten haben künftig zu gewährleisten, dass ihre Produkte bei Inverkehrbringen den Anforderungen der MDR genügen. Falls sie das nicht können, besteht ein Verkehrsverbot.


3. Klinische Bewertung:

Auch Sonderanfertigungen müssen einer klinischen Bewertung unterzogen werden und sind Teil des QM-Systems. Der Umfang des klinischen Nachweises muss den Merkmalen des Produkts und seiner Zweckbestimmung angemessen sein. Hierzu sind die folgenden Punkte zu berücksichtigen:

  • Kritische Bewertung der einschlägigen derzeit verfügbaren wissenschaftlichen Fachliteratur über Sicherheit, Leistung, Auslegungsmerkmale und Zweckbestimmung des Produkts,
  • eine kritische Bewertung der Ergebnisse aller verfügbaren klinischen Prüfungen,
  • eine Berücksichtigung der gegebenenfalls derzeit verfügbaren anderen Versorgungsoptionen für diesen Zweck.

4. Klinische Nachbeobachtung:

Für die klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen muss ein Plan festgelegt werden. Darin müssen u. a. folgende Methoden und Verfahren für das Sammeln und Bewerten der Daten beschrieben werden:

  • Ermittlung zuvor unbekannter Nebenwirkungen (z. B. Veränderungen infolge von Wechselwirkungen mit Medikamenten)
  • Bewertung der klinischen Daten zu gleichartigen oder ähnlichen Produkten | Einholung des Feedbacks von Anwendern
  • Durchsicht wissenschaftlicher Fachliteratur und anderer Quellen klinischer Daten.

Der Hersteller hat aus den Erfahrungen der klinischen Nachbeobachtung angemessene Vorkehrungen zu treffen, um erforderliche Korrekturen durchzuführen. In diesem Zusammenhang muss nach Artikel 87 Absatz 1 den zuständigen Behörden jedes schwerwiegende Vorkommnis oder jede Sicherheitskorrekturmaßnahme im Feld oder beides gemeldet werden, sobald der Hersteller davon erfährt.

Die Ergebnisse aus der klinischen Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen sind in einem Bewertungsbericht über die klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen zu dokumentieren. Es sind angemessene Vorkehrungen zu treffen, um erforderliche Korrekturen durchführen zu können.

5. Sicherheitsbericht:

Jeder Hersteller von Zahnersatz muss für jede Produktkategorie oder Produktgruppe einen regelmäßig aktualisierten Bericht über die Sicherheit („Sicherheitsbericht“) erstellen. Die Hersteller von Produkten der Klasse IIa (also von Zahnersatz) aktualisieren den Sicherheitsbericht bei Bedarf, mindestens jedoch alle zwei Jahre.

Medizinprodukte-Anpassungsgesetz-EU (Referentenentwurf)

Das Bundeskabinett hat am 06. November 2019 den Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des nationalen Medizinprodukterechts (Medizinprodukte-EU-Anpassungsgesetz – MPEUAnpG) an die Medizinprodukteverordnung 2017/745 beschlossen. Der Gesetzentwurf dient in erster Linie der technischen Anpassung des nationalen Medizinprodukterechts an die neuen EU-Vorgaben.

Das im Referentenentwurf vorliegende neue Gesetz hat hinsichtlich der Anforderungen an die Hersteller von Sonderanfertigungen keine Erleichterungen zum Inhalt. Dargelegt werden in diesem Gesetzentwurf zum Beispiel die Verantwortlichkeiten der Medizinprodukteberater. Auch werden Strafrahmen, Höhe der Strafen und Bußgelder für Verstöße spezifiziert. So ist z. B. das Inverkehrbringen abgelaufener Materialien oder eine nicht erfolgte Meldung eines meldepflichtigen Vorkommnisses durch den Medizinprodukteberater in Zukunft mit bis zu 30.000 EUR Bußgeld bewertet.

Ein Bußgeld droht auch, wenn keine oder eine nicht vollständige Konformitätserklärung nach Anhang XIII (MDR) beifügt wird. Eine Konformitätserklärung ist bereits und wird in Zukunft noch deutlicher zu einem Rechtsakt, der nicht zu unterschätzen ist. Das Labor muss darin bestätigen, dass es den Anhang I (MDR) erfüllt und somit ein Risikomanagement als kontinuierlichen iterativen Prozess während des gesamten Lebenszyklus eines Produkts (Produktfamilie) mit regelmäßiger systematischer Aktualisierung in seinem Labor nicht nur eingeführt hat, sondern auch anwendet.

In weiteren Artikeln wird der Autor die einzelnen gesetzlichen Anforderungen noch weiter vertiefen.

*Zahntechniker gelten als „Sonderanfertiger“
**kleine und mittelständische Unternehmen

 

Alles Wissenswerte zur neuen EU-Medizinprodukte-Verordnung finden Sie auch ausführlich und in kompakter Form  auf www.mdr2020.de 

 

 

Näheres zum Autor des Fachbeitrages: Dipl. Betriebswirt Karl-Heinz Martiné