Okklusion – Craniomandibuläre Dysfunktion – Körperhaltung

Das craniomandibuläre System (CMS) unterhält funktionell enge Verbindungen mit den weiteren Körpersegmenten, um auf diese Weise das Zusammenspiel des gesamten Körpers in der Körperstatik und bei Bewegungen zu gewährleisten. Vermutete krankhafte Beziehungen zwischen der Okklusion und der craniomandibulären Dysfunktion (CMD) auf der einen und der Körperhaltung auf der anderen Seite sind in der Zahnmedizin ein aktuell intensiv und kontrovers diskutiertes Thema.
Zunehmend werden Zusammenhänge zwischen orthopädischen und dentalen Befunden argumentiert, jedoch ist dieses Thema überwiegend von Spekulationen und unbelegten Hypothesen geprägt. Umfangreiche Übersichtsarbeiten kamen zu dem Ergebnis, dass die verfügbare Literatur zu segmentübergreifenden neuromuskulären Wechselwirkungen von mangelnder Qualität seien und in der Folge keine pathophysiologischen Zusammenhänge abzuleiten sind [1,2].
Neuroanatomische Verbindungen des CMS
Die vielfältig beschriebenen Verbindungen des CMS mit den weiteren Körpersegmenten auf Ebene der Nervenbahnen wurden in Tierexperimenten an Ratten, Katzen und Schweinen untersucht. Nach diesen Ergebnissen besitzt der N. trigeminus (Hauptnerv der Kiefer-/Gesichtsregion) neuroanatomische Verbindungen zu haltungs- und gleichgewichtsregulierenden Anteilen des Nervensystems [3] sowie Projektionen auf alle Ebenen des Rückenmarks [4]. Ebenfalls im Fokus intensiver Forschung stand ein wichtiger Nervenkern, der Nucleus mesencephalicus, der neben der Tiefensensibilität des CMS zum Beispiel auch Eingänge aus Nerven erhält, die an den Bewegungen der Augen beteiligt sind [3,5].
Eine weitere tierexperimentelle Studie an der Ratte zeigte, dass sensorische Informationen aus den Regionen von Kopf und Gesicht in weit gestreute Areale des zentralen Nervensystems (ZNS), wie zum Beispiel das Rückenmark und verschiedene Nervenkerne des Hirnstammes und des Kleinhirns, fortgeleitet werden können. Aus diesen und den oben genannten Fakten leiten die Autoren unter anderem eine wichtige Funktion dieser Verbindungen für die Stabilisation und Koordination der Kopfhaltung und der Augenbewegungen ab [6]. Die Autoren nehmen an, dass die Verbindungen mit dem Kleinhirn eine Beteiligung des N. trigeminus an der Koordination von Augen- und Kopfbewegungen ermöglichen [7]. Verbindungen zum Rückenmark der Halsregion könnten darüber hinaus der Koordination zwischen Kiefer- und Halsmuskulatur beim Kauen dienen [8].
Resultierende physiologische Phänomene
Auf der Grundlage der beschriebenen Verbindungen können Reize im Gebiet des N. trigeminus Kopfbewegungen beeinflussen oder initiieren (trigeminaler Halsreflex) [9,10]. Ein weiteres neuromuskuläres Phänomen in diesem Zusammenhang sind nickende Bewegungen beim Kauen [11], die eine erleichterte Öffnungs- und Schließbewegung des Kiefers ermöglichen. Eine deutlich erhöhte Reflexbereitschaft bei Pressaktivitäten mit den Zähnen [12,13] sind ein Beispiel für eine Reflexbahnung durch motorische Aktivität. Dieses Phänomen wurde bereits 1885 durch die Beschreibung des „Kniephänomens“ in die Literatur eingeführt [14]. Diese Form der Reflexbahnung ist ein Beleg für eine gesunde Funktion des Nervensystems des gesamten Körpers und keineswegs Ausdruck krankhafter Veränderungen oder Vernetzungen. Sowohl das Jendrassik-Manöver als auch Kiefermuskelaktivitäten führen zu einer robusten Reduktion von Körperschwankungen [15]. Kinematische und elektromyographische Aufzeichnungen haben zudem gezeigt, dass bei Kieferbewegungen und bei isometrischer Kontraktion der Kaumuskulatur eine Co- Aktivierung von Hals- und Kiefermuskulatur stattfindet [11,16,17]. Ebenso gibt es Hinweise darauf, dass eine Modifikation der Okklusion das Aktivitätsmuster der Halsmuskulatur [18,19] sowie die Kopfhaltung [20,21] verändern kann.
Funktionelle Kopplung und Komorbidität
Das gemeinsame Auftreten (Komorbidität) von Kau-, Nacken- und Rückenmuskelschmerzen, das in mehreren epidemiologischen Studien dokumentiert wurde [22–25], unterstützt die Annahme, dass die enge funktionelle Kopplung dieser Muskelgruppen bei der Entstehung der muskulären Schmerzen einbezogen werden muss [26]. Bruxismus wird dabei als einer von vielen Risikofaktoren bei der Entstehung von CMD und Dysfunktionen der Halswirbelsäule angesehen. In diesem Zusammenhang werden Erklärungsmodelle angeführt, wonach es bei Störungen innerhalb des CMS durch neuromuskuläre Kompensationsmechanismen entlang von kinetischen Ketten zu Störungen der gesamten Körperhaltung kommen soll [27,28]. Diese Modelle sind jedoch nach dem aktuellen Stand des Wissens nicht haltbar. Jüngste Studien haben gezeigt, dass es bei submaximalen Pressaktivitäten der Kiefer in aufrechter Position und im Liegen zu einer gemeinsamen Anspannung der Kau- und Nackenmuskulatur kommt [17,29]. Darüber hinaus konnten geringe, jedoch lang anhaltende tonische Aktivierungen (LLTA) der Halsmuskulatur durch die simulierte parafunktionelle Aktivität der Kaumuskulatur (Bruxismus) getriggert werden [17,29]. Im Kontext der multifaktoriellen Ätiologie von myofaszialen Schmerzen stellt die beobachtete LLTA der Halsmuskeln eine glaubwürdige Hypothese für die pathophysiologischen Wechselwirkungen zwischen Kau- und Nackenmuskulatur dar.
Okklusale Faktoren bei CMD
In der Vergangenheit wurde angenommen, dass Zahnverlust, prothetische Sanierungsmaßnahmen, kieferorthopädische Behandlungen und okklusale Interferenzen nicht-adaptive oder nicht-adaptierbare Funktionsmuster des CMS auslösen könnten, welche zu einer neuromuskulären Dysbalance und schließlich zu Schmerzen führen sollten [30]. Im Gegensatz dazu zeigen neuere epidemiologische Studien konsistent, dass die Wirkung von okklusalen Faktoren bei der Entstehung von CMD-Schmerzen bei weitem nicht so groß ist, wie dies in den letzten Jahrzehnten angenommen wurde [31]. Aktuelle experimentelle Studien konnten zeigen, dass okklusale Interferenzen bei gesunden Probanden keine verstärkte Aktivität der Kiefermuskulatur oder hieraus resultierende Schmerzen auslösen [32]. Es ist aber zu beachten, dass obwohl ältere pathophysiologische Modelle für muskuläre Schmerzen bei CMD die okklusalen Faktoren überschätzten, einige Formen der Okklusion schwach, aber dennoch statistisch signifikant mit CMD-Schmerzen assoziiert sein können [33]. Es konnte gezeigt werden, dass Patienten mit Kiefermuskelschmerzen im Wachzustand deutlich mehr nichtfunktionelle Zahnkontakte als gesunde Kontrollprobanden aufweisen [34]. Es ist jedoch nicht klar nachvollziehbar, ob diese erhöhte Kontaktzeit die Ursache oder aber die Folge der Schmerzen ist. Hierbei wird deutlich, dass auf der Grundlage des aktuellen Verständnisses der multifaktoriellen Ätiologie von CMD-Schmerzen [35] die strukturellen okklusalen Komponenten lediglich als Co-Faktoren im Zusammenspiel mit mehreren anderen Risikofaktoren bei der Entstehung einer CMD betrachtet werden müssen. Der Einsatz umfangreicher, irreversibler okklusaler Therapien ist daher nur in äußerst seltenen Fällen indiziert.
Okklusion und Körperhaltung
Mithilfe der eingesetzten Instrumentierungen, wie Oberflächen-Elektromyographie, Kinesiographie und Posturgraphie, konnten keine konsistenten pathophysiologischen Zusammenhänge zwischen Körperhaltung, Okklusion und CMD aufgezeigt werden [2,36]. Dieses Ergebnis ist vermutlich die Folge der vielfältigen Kompensationsmechanismen, die innerhalb des neuromuskulären Systems zur Regulierung der Balance des Körpers und der Haltung bestehen [2]. Es gibt also weder belastbare Hinweise auf einen vorhersagbaren pathophysiologischen Zusammenhang zwischen okklusalen und posturalen Abweichungen im Sinne „absteigender neuromuskulärer Kausalketten“, noch sind CMD-Schmerzen mit messbaren okkluso-posturalen Anomalien im Sinne „aufsteigender Kausalketten“ verbunden. Insbesondere posturographische Instrumentierungen zur Untersuchung von Okklusion und Körperhaltung sollten daher ausschließlich in der Forschung eingesetzt werden. Der Einsatz solcher Instrumentierungen in der täglichen Praxis ist aufgrund der geringen Reliabilität strikt abzulehnen [37]. Des Weiteren gibt es bis heute keinen hinreichenden Beweis für einen klinischen Nutzen von posturographischen Messungen in der Diagnostik und Behandlung von CMD [2,36].
Fazit
Der Einsatz umfangreicher irreversibler okklusaler Therapien zur Behandlung einer CMD ist nur in seltenen Fällen indiziert. Eine zielgerichtete Behandlung von muskuloskelettalen Erkrankungen des Bewegungsapparates außerhalb des CMS mithilfe okklusaler Therapien ist unmöglich. Daher sind irreversible okklusale Therapien zum genannten Zweck strikt abzulehnen.
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