Funktion

Wie funktionelle Aufbissbehelfe und komplexe Physiotherapie in der täglichen Praxis zu einem zufriedenstellenden Behandlungsziel bei CMD führen können

Teil 1 - Von gründlicher CMD-Diagnostik zu indikationsgerechter CMD-Therapie

Doppelschiene zum Eingrenzen von parafunktionellen Unterkieferbewegungen.
Doppelschiene zum Eingrenzen von parafunktionellen Unterkieferbewegungen.

Im folgenden Beitrag haben zwei Praktiker, ZA Dr. Diether Reusch und der Physiotherapeut (NL) und Heilpraktiker Gert Groot Landeweer ihr aktuelles Wissen zur CMD-Diagnostik und -Therapie zusammengefasst, sowohl grundsätzlich als auch auf einen konkreten Fall bezogen. Im Mittelpunkt steht eine Patientin mit einem rehabilitationsbedürftigen Gebiss und situationsbedingter Infraokklusion. Es werden gelenkige und muskuläre Schmerzen, eine Kapselretraktion sowie Funktionsstörungen im Sinne von Hyperaktivitäten, Hypertonien und Koordinationsstörungen festgestellt. Um die notwendige Rehabilitation durchführen zu können, werden zuerst die Funktions- und Strukturstörungen über eine Kombinationsbehandlung von funktions- und strukturtherapeutischen Geräten mit physiotherapeutischen Behandlungen und Eigenübungen behandelt. Diese Behandlungen führen zu einer Zentrikfähigkeit, die ihrerseits Voraussetzung dafür ist, um reproduzierbare zentrische Übertragungsregistrate in definitiver therapeutischer Referenzposition in verschiedenen Abschnitten der Behandlung zu erhalten, – eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für sicheres Rekonstruieren.

Seit vielen Jahren werden temporäre funktionelle Aufbissbehelfe (funktionelle Aufbissschienen) in Kombination mit Physiotherapie für die Behandlung craniomandibulärer Dysfunktionen (CMD) empfohlen. Beide Behandlungsmethoden werden jedoch kontrovers diskutiert. In diesem Beitrag wird anhand eines Praxisbeispiels und von Hintergrundinformationen ein pragmatisches diagnostisch-therapeutisches-Konzept vorgestellt, das in der täglichen Praxis konsequent umsetzbar ist. Es wird dabei gezeigt, welche Schienentypen wann zum Einsatz kommen und wie Physiotherapie im Gesamtkonzept ihren Platz findet. Dafür werden sowohl die notwendigen diagnostischen als auch therapeutischen Aspekte beschrieben.

Einige Autoren sehen in der Zusammenarbeit zwischen Zahnmedizin und Physiotherapie eine gesicherte wissenschaftliche Grundlage für einen bestmöglichen Erfolg in der Behandlung von Bewegungsschmerzen und -Einschränkungen des Unterkiefers, manche sogar darüber hinaus in der Anwendung bei Schmerzsyndromen außerhalb des Kausystems [1, 2]. Eine gesicherte Systematik in der Anwendung liegt jedoch nicht vor und könnte auch deshalb schwierig herzustellen sein, weil viele patientenindividuelle Variablen darin nicht berücksichtigt werden könnten. In der hier folgenden Darstellung fließt unsere mehr als zwanzigjährige Zusammenarbeit und Erfahrung in der Behandlung von Patienten mit Funktions und Strukturstörungen im Kausystem ein.

Beispielpatientin: Anamnese und klinische Untersuchung

Eine Patientin kommt in die Praxis. Sie klagt, sie habe seit einigen Wochen zunehmende Beschwerden im linken Kopf-Kiefer-Gesichts-Bereich, die morgens stärker sind als abends. Ein unmittelbarer Auslöser als Verursacher ist nicht vorhanden, die Beschwerden sind allmählich entstanden. Im Kausystem lassen sich Schmerzen vor dem linken Ohr beim Kauen ausmachen, die jedoch auch in den Schläfenbereich und manchmal bis in Höhe der Wange reichen. Die Patientin schläft seit längerem schlecht – wahrscheinlich durch die zunehmend aufwendige Betreuung ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter –, sonst gibt es, auch bei genauerem Nachfragen, keine weiteren Symptome und keine Veränderung von altbekannten Alltagsbeschwerden. Es liegen keine Grunderkrankungen vor, die Patientin nimmt keine Medikamente.

In der klinischen Untersuchung werden sowohl gelenkig- kapsuläre als auch muskuläre Schmerzen gefunden (Überlastung). Auf der linken Seite kann das Kieferköpfchen nicht gut manuell distrahiert werden – obwohl der Test schmerzfrei durchgeführt werden kann, was klinisch eine Kapselretraktion bedeutet (Limitation). Die Kaumuskeln sind auf beiden Seiten ebenfalls deutlich verhärtet, links mehr als rechts (Hypertonie), die horizontalen Unterkieferbewegungen werden nicht präzise genug ausgeführt. Bei der Zerkleinerung eines Kohlrabi-Stückes (zum Zeitpunkt des Tests in der Praxis ist dies schmerzfrei möglich) zeigt sich ebenfalls keine ausreichende Präzision (Koordinationsstörung). Intraoral finden sich deutliche Attritionen und keilförmige Defekte (Hyperaktivität), aufgrund einer schmerzreflektorischen Entlastung wird auf der linken Seite eine deutliche Infraokklusion festgestellt. Es liegt ein klarer Rehabilitationsbedarf im oberen rechten Quadranten vor.

Hintergrund: CMD

Bei unserer Patientin kann also eine CMD im Sinne einer muskulären und okklusalen Dysfunktion mit Myoarthropathie diagnostiziert werden. Neueren klinischen und wissenschaftlichen Einsichten zufolge sollte die craniomandibuläre Dysfunktion prinzipiell als eine Überreizung des Nervensystems, und dabei insbesondere des N. trigeminus, angesehen werden [3]. Diese sogenannte Sensitisierungs- oder Sensitivierungsstörung (beide Begriffe werden synonym verwendet) wird mittlerweile wissenschaftlich als Hauptursache für viele chronische Schmerzzustände angesehen [4]. Der Mechanismus bei dieser Störung kann als Lernprozess im Nervensystem angesehen werden, wobei nach intensiver Reizung eines Rezeptors oder Nervs die Antwort auf nachfolgende, auch unterschwellige Reize verstärkt wird. Hierbei entstehen Symptome auf der Grundlage des Versuchs des Nervensystems, seinen Impulsüberschuss loszuwerden.

Als Folge dessen entstehen Muskelhypertonien, Hyperalgesien, vegetative und Stimmungs-Veränderungen, um die wichtigsten Aspekte bei CMD zu nennen. Lokal, innerhalb des craniomandibulären Systems, können dabei symptomatisch Myoarthropathien entstehen, welche in Muskelschmerzen, Gelenkschmerzen und Limitationen mit und ohne Faserzahlzunahme einzuteilen sind (Abb. 1). Bei den Limitationen ohne Faserzahlzunahme handelt es sich um kondyläre Verlagerungen hinter den Diskus artikularis oder um reaktive Muskelanspannungen, die beide zu Bewegungseinschränkungen des Unterkiefers führen. Limitationen mit Faserzahlzunahme entstehen als Folge von Vernarbungen nach einer Verletzung oder von Verklebungen bei dauerhafter geweblicher Entlastung.

  • Abb. 1: Schema der Strukturstörungen im Kausystem.
  • Abb. 2: Schema der Funktionsstörungen im Kausystem. Abb. 1-6: © Groot Landeweer
  • Abb. 1: Schema der Strukturstörungen im Kausystem.
  • Abb. 2: Schema der Funktionsstörungen im Kausystem. Abb. 1-6: © Groot Landeweer

Als Vorläufer der oben genannten Symptome kommen asymptomatische „nervöse“ Situationen wie Muskelhyperaktivität und -hypertonie sowie Koordinationsstörungen in Betracht (Abb. 2). Für den Zahnarzt ist es notwendig, die genannten CMD-Aspekte in seine Arbeit zu integrieren. Das bezieht sich auf folgende Situationen:

a) bei geplanter defi nitiver Veränderung der Zahnhartsubstanz mittels oraler Rehabilitationen oder Kieferorthopädie herbeizuführen,

b) Patienten mit subjektiven Symptomen im Kausystem, während oder nach Unterkieferbewegungen, zu behandeln sowie

c) Konsilpatienten mit subjektiven Symptomen (das sind im Allgemeinen chronische Schmerzen) in entfernten Systemen (meistens Wirbelsäule) weiterzuhelfen.

Bei der vorgestellten Patientin finden sich intraoral deutliche Attritionen und keilförmige Defekte (Hyperaktivität), aufgrund einer schmerzreflektorischen Entlastung wird auf der linken Seite eine deutliche Infraokklusion festgestellt. Es liegt ein klarer Rehabilitationsbedarf im oberen rechten Quadranten vor. Es kann also eine CMD im Sinne einer muskulären und okklusalen Dysfunktion mit Myoarthropathie diagnostiziert werden.

Rehabilitationsbedarf und Funktion

Die diagnostizierten Veränderungen der Zahnhartsubstanz zeigen einen Rehabilitationsbedarf im Oberkiefer, Region 14 bis 16. Füllungen mit insuffizientem Randschluss und beginnender, tief liegender Karies sind hier vorhanden. Um die Rekonstruktion patientengerecht zu realisieren, ist eine ausführliche Anamnese sowie Funktions- und Strukturdiagnostik erforderlich. Dabei wird, neben der Erstellung möglicher Funktions- und Strukturdiagnosen, auch die Zentrikfähigkeit geprüft. In unserem Patientenfall kann festgestellt werden, dass momentan eine Zentrikfähigkeit nicht vorliegt und somit erst erarbeitet werden muss, bevor eine rehabilitative Arbeit stattfinden kann. Nur unter der Bedingung des Vorhandenseins der Zentrikfähigkeit ist eine stabile Übertragung der Unterkieferreferenzposition über den gesamten Zeitraum der Rehabilitation möglich.

Hintergrund: Kernaufgabe Zentrikfähigkeit

In der täglichen zahnärztlichen Praxis ist, vor Veränderung von okklusionstragenden Flächen an einem oder mehreren Zähnen, im Allgemeinen bei Rekonstruktionen oder in der Kieferorthopädie, eine sichere Beurteilung verschiedener intra- und extraoraler Kriterien wesentlich. Dazu gehören, neben der Berücksichtigung üblicher Standardkriterien für den Zustand der Mundhöhle sowie allgemeiner medizinischer Krankheitszeichen, auch die Beurteilung myoarthrogener Kriterien zur Feststellung der sogenannten Zentrikfähigkeit. Letztere ist zu betrachten als die Fähigkeit des myoarthrogenen Systems, mit der größtmöglichen Wahrscheinlichkeit über möglichst viel Adaptationsfähigkeit zu verfügen und somit so wenig wie möglich, während temporärer Stresssituationen wie während der Rekonstruktions- oder kieferorthopädischen Zeit , zu dekompensieren. Die klinischen Kriterien der Zentrikfähigkeit sind folgende:

  • keine subjektiven Beschwerden während bzw. nach Unterkieferbewegungen, sowohl funktioneller als auch parafunktioneller Art, im Sinne von Schmerzen, Haken, Blockieren oder Limitation,
  • keine provozierbaren Beschwerden, entzündlicher oder limitierender Art, während bzw. nach systembelastenden Unterkieferbewegungen im Sinne von schnellen maximalen Öffnungs- und Schließbewegungen des Kiefers (Abb. 3a u. b),
  • keine Einschränkung der Kondylenbewegung nach ventral, durch entzündliche oder limitierende Prozesse bedingt, bei Kieferöffnungsbewegungen aus maximaler Protrusionsstellung des Unterkiefers heraus (Abb. 4a u. b),
  • keine oder nur geringe Hyperaktivitäten der Kaumuskeln im Sinne von fühlbaren Aktivitäten bei bewusst entspannter Muskulatur oder von sichtbaren intraoralen Verletzungen der Zahnhartsubstanz oder des Parodontiums, die auf mechanische Einwirkungen zurückzuführen sind. Bei der Anwendung der der Brux Checker® Folie finden sich keine exzessiven parafunktionelle Flächen,
  • keine oder nur geringe Hypertonien der Kaumuskeln im Sinne von fühlbaren Verhärtungen oder lokalen Quellungen bei bewusst entspannter Mukulatur (Abb. 5a u. b),
  • keine oder nur geringe Koordinationsstörung der orofazialen Muskeln, hauptsächlich der lateralen Pterygoidmuskeln, keine oder nur geringe Insuffizienz bei der Zerkleinerung der Nahrung im Sinne von Funktionsverlusten (insgesamt: Kau-, Schluck-, Atem- und Sprechinsuffizienz, Abb. 6a u. b).

Diese wichtigen klinischen Kriterien werden über die Anamnese eventuell vorhandener Beschwerden sowie mittels Inspektion aktiver und funktioneller (Unterkiefer-) Bewegungen und Palpation des Muskeltonus erfasst. Der hierzu notwendige klinische Untersuchungsgang im Sinne von Screeningstests oder Standarduntersuchungen benötigt nur wenige Minuten.

  • Abb. 3a: Diagnostik: schnelle Kieferöffnungs- und ...
  • Abb. 3b: ... -schließbewegungen.
  • Abb. 3a: Diagnostik: schnelle Kieferöffnungs- und ...
  • Abb. 3b: ... -schließbewegungen.
    Bildnachweis Abb. 3-6: Gert Groot Landeweer

  • Abb. 4a: Diagnostik: aktive Kondylenbewegung ...
  • Abb. 4b: ... nach ventral.
  • Abb. 4a: Diagnostik: aktive Kondylenbewegung ...
  • Abb. 4b: ... nach ventral.

  • Abb. 5a: Diagnostik: Palpation der Kaumuskeln ...
  • Abb. 5b: ... auf mögliche Verhärtungen.
  • Abb. 5a: Diagnostik: Palpation der Kaumuskeln ...
  • Abb. 5b: ... auf mögliche Verhärtungen.

  • Abb. 6a: Diagnostik: Koordinationstests für die ....
  • Abb. 6b: ... Mm. pterygoidei lateralis.
  • Abb. 6a: Diagnostik: Koordinationstests für die ....
  • Abb. 6b: ... Mm. pterygoidei lateralis.

In der täglichen zahnärztlichen Praxis können Patienten folgende Situationen aufweisen:

> mechanische Überlastungen bindegewebiger Strukturen myoarthrogener Gewebe (Strukturstörungen) im Sinne einer

  • traumatischen Entzündung mit Gelenk- oder Muskelschmerzen, Schwellungen und ggf. Bewegungseinschränkungen (dies wurde bei der Patientin festgestellt),
  • oder mechanischen Limitation ohne Zunahme der Faserzahl im Sinne einer Retraktion, mit schmerzfreien hakenden oder blockierenden Komponenten (konnten bei der Patientin nicht festgestellt werden);

> eine retrahierende oder adhärente Komponente (ebenfalls Strukturstörungen) im Sinne einer

  • mechanischen Limitation mit Zunahme der Faserzahl und Verkürzungen bindegewebiger Strukturen myoarthrogener Gewebe; (bei der Patientin wurde eine verklebte Gelenkkapsel festgestellt);

> hinzu kommen muskuläre Funktionsstörungen im Sinne einer

  • Hyperaktivität,
  • Hypertonie,
  • oder Koordinationsstörung (alle 3 Aspekte waren bei der Patientin noch vorhanden).

Diese Situationen benötigen eine funktionelle und/oder oder strukturelle Behandlung, vor bzw. während konservierender, prothetischer oder kieferorthopädischer Maßnahmen, um die Zentrikfähigkeit wiederherzustellen. Um dies zu erreichen, werden funktions- und strukturtherapeutische Geräte (FTG und STG), sogenannte funktionelle Aufbissbehelfe, eingesetzt.

Die Kernaufgabe des Zahnarztes im Umgang mit CMD-Aspekten besteht darin, die Zentrikfähigkeit zu prüfen und diese, wenn nötig weil nicht oder nicht ausreichend vorhanden , wieder herzustellen oder eine Annäherung daran zu erreichen. Dies Ziel gilt für alle oben beschriebenen Situationen, also nicht nur rund um eine okklusale Veränderung, sondern auch bei symptomatischen Patienten.

Hintergrund: Referenzpositionen

Die oben beschriebene Zentrikfähigkeit ist die Voraussetzung für die Registrierung einer stabilen, zentrischen Unterkieferposition, die reproduzierbar sein sollte. In der Abhängigkeit bindegewebiger Faktoren werden registrierte Unterkieferpositionen sinnhafterweise unterschiedlich benannt.

  • Als Physiologische Referenzposition (RP) wird die ideale Referenzposition angesehen, wobei die Kaumuskeln und Kiefergelenke keine klinisch feststellbaren Veränderungen aufweisen. Die Strukturen der Kiefergelenke sind unbelastet und die Kaumuskeln entspannt. Diese Unterkieferposition wird durch die physiologische Bänderspannung und -ausrichtung sowie durch die optimale Kaumuskelfunktion bestimmt.
  • Die pathologische Referenzposition (PaRP) ist die, welche registriert wird, wenn die Kriterien der Zentrikfähigkeit nicht erreicht werden. In dieser Situation bestehen Funktions- und/oder Strukturstörungen, ohne dass dafür eine Therapie bereits begonnen hat. Die PaRP beschreibt somit die Anfangssituation vor einer Funktions- oder Strukturtherapie, aufgrund derer der Behandler das erste funktionstherapeutische Gerät (FTG) oder strukturtherapeutische Gerät (STG) anfertigt.
  • Die Referenzpositionen, welche der Behandler im Verlauf der Funktions- und Strukturtherapie zum Erlangen der Zentrikfähigkeit registrieren kann, werden als therapeutische Referenzpositionen bezeichnet (ThRP).
  • Die definitive therapeutische Referenzposition (DThRP) ist dabei als die registrierte Unterkieferposition am Ende einer Funktions- oder Strukturtherapie zu betrachten, in welche der Patient gekommen ist. Hierbei kann eine Zentrikfähigkeit vorhanden sein oder aber es ist eine weitestgehende Annäherung an die Zentrikfähigkeit erfolgt und eine weitere Annäherung ist nicht wahrscheinlich.
  • Bis zum Erreichen der definitiven therapeutischen Referenzposition werden die registrierten Unterkieferpositionen während der Durchführung einer Funktions- oder Strukturtherapie als temporäre therapeutische Referenzposition (TThRP) bezeichnet.

Basierend auf der funktionellen oder strukturellen Diagnose kann es eventuell erforderlich sein, am Patienten eine gezielte temporäre therapeutische Referenzposition abzunehmen oder diese im Artikulator gezielt einzustellen, um ein spezifisches therapeutisches Gerät herzustellen (z. B. eine Protrusivschiene für den Unterkiefer zum retralen Gelenkschutz für einen kapsulären Gelenkschmerz).

Vorbereitende Behandlungsschritte für einen Aufbissbehelf – das Übertragungsregistrat

Für die Behandlung der Funktions- und Strukturstörungen der Patientin wird ein Aufbissbehelf im Artikulator angefertigt. Hierzu wird, wie bei der Herstellung aller funktionellen Aufbissbehelfe, immer ein gelenkbezogenes Übertragungsregistrat zur Kieferrelationsbestimmung benötigt (Abb. 7a-c). Bei unserer Patientin handelt es sich um ein „Registrat in pathologischer Referenzposition“ (s. u.). Als Registratträger wird lichthärtender Kunststoff, primobyte (Primodent, Bad Homburg), als Registratmaterial wird eine lichthärtende Detailpaste verwendet. Der Registratträger wird im Dentallabor am Arbeitsmodell von bukkal gesehen so beschliffen, dass die tiefsten Punkte der bukkalen Höckerspitzen die Randbegrenzung bilden. In der zahnärztlichen Praxis, muss er am Oberkiefer der Patientin einen perfekten Sitz aufweisen. Beim Auftreten von Ungenauigkeiten bei dieser Prüfung, muss eine neue Abformung mit anschließender Herstellung eines neuen Modells vorgenommen werden.

  • Abb. 7a-c: Herstellung eines Übertragungsregistrats zur gelenkbezogenen Kieferrelationsbestimmung. Bildnachweis: Dr. Diether Reusch
  • Abb. 7b
  • Abb. 7a-c: Herstellung eines Übertragungsregistrats zur gelenkbezogenen Kieferrelationsbestimmung. Bildnachweis: Dr. Diether Reusch
  • Abb. 7b

  • Abb. 7c
  • Abb. 7c

Die Patientin wird so vorbereitet, dass der Vorgang der gelenkbezogenen Kieferrelationsbestimmung (und/ oder UK-Bewegungsaufzeichnung) problemlos verlaufen kann. Im Vorfeld bekommt sie einen Aqualizer® (Dentrade International, Köln) für zu Hause mit. Die Patientin legt 2 Stunden vor dem Termin den Aqualizer ® der Oberkieferzahnreihe, zur muskulären Deprogrammierung, auf. Nach dessen Entfernung in der Praxis darf sie die Ober- und Unterkieferzähne, während des gesamten Vorgangs, nicht mehr in Kontakt bringen.

Die Kieferrelationsbestimmung kann am sitzenden, aber auch am liegenden Patienten vorgenommen werden. Der Kopf darf keinesfalls nach hinten überstreckt werden. Die Nackenmuskulatur darf nicht angespannt sein. Die Nackenstütze des Behandlungsstuhls wird so eingestellt, dass der Kopf stabil abgestützt ist, um jede Anspannung der Muskulatur zu vermeiden.

Der Registratträger (grün) wird im Mund ausgedünnt. Dazu wird der Registratträger der Oberkieferzahnreihe aufgelegt. Es wird rote Okklusionsseide interponiert. Der Patient schließt locker mehrmals auf den Registratträger. Nach Entnahme aus dem Mund werden die sich in Rot abzeichnenden Markierungen eingeschliffen. Dies wird wiederholt, bis dass die Unterkieferzahnreihe gleichmäßig auftrifft. Hierbei darf der Registratträger perforiert werden. Ziel ist ein gleichmäßiger Kontakt bei minimaler Bisssperre. Der Registratträger wird nun der oberen Zahnreihe zur Bestimmung der Lage der Detailpaste aufgelegt, der Patient schließt vorsichtig (annähernd kraftlos) auf den Registratträger. Mittels Bleistift wird die Lage der Stopps aus Detailpaste über ein Fadenkreuz markiert. Als Markierungspunkte gelten der Approximalraum zwischen den UK-2ern und Eckzähnen, sowie die distobukkalen Höcker der 1. Molaren oder die mesiobukkalen Höcker der zweiten Molaren. Der Registratträger wird aus dem Mund entfernt. Die primobyte Detailpaste (blau) wird auf das vordere Paar Fadenkreuze aufgebracht. Sie wird mit einem vaselinierten Finger auf dem Registratträger adaptiert. Die Stärke der Schicht sollte gering sein. Der Registratträger wird dem Oberkiefer aufgelegt. Der Behandler stützt in der Regel die linke Hand auf der Stirn des Patienten sanft ab. Daumen und Zeigefinger der Hand halten den Registratträger. Die drucklos am Kinn platzierte Daumen und Zeigefinger der anderen Hand dienen zur Prüfung einer freien Unterkieferschließbewegung, sowie zur Kontrolle von unbeabsichtigten Horizontalbewegungen. Sie dienen nicht zur Führung des Unterkiefers. Die Patientin schließt annähernd kraftlos in die Paste hinein, ohne dabei das Material gänzlich durchzubeißen. Nach Entfernen aus dem Mund und Aushärtung werden diese Stopps bis minimalem Kontakt eingeschliffen sowie mit Shimstock Metallfolie überprüft, wobei der Grat des Approximalraums zwischen UK-2 und -3 erhalten bleiben muss. Danach wird der Vorgang mit den hinteren Stopps gleichermaßen vollzogen. Nach Fertigstellung des Registrats wird die Wiederholbarkeit der Schließbewegung noch einmal dadurch geprüft, dass alle Kontakte auf dem Übertragungsregistrat mittels Shimstock Folie überprüft werden.

Hintergrund: Übertragungsregistrate

Für die Übertragung der oben genannten Unterkieferpositionen in den Artikulator hinein werden gelenkbezogene Registrate benötigt. Im Allgemeinen werden diese – unabhängig von der Referenzposition – als „zentrische Registrate“ bezeichnet. Der Eindeutigkeit halber ist jedoch folgende Einteilung im Praxisalltag, sicherlich auch in der Kommunikation zwischen Zahnarzt und Zahntechniker, notwendig und sinnvoll.

Wenn Zentrikfähigkeit gegeben ist:

  • Zentrisches Registrat in RP (Patient hat keine Funktions- und Strukturstörungen);
  • Zentrisches Registrat in DThRP (Patient wurde für seine Funktions- und/oder Strukturstörung [ausreichend] erfolgreich behandelt).

Wenn Zentrikfähigkeit nicht gegeben ist und diese durch Funktions- und Strukturtherapie angestrebt wird:

  • Registrat in PaRP (Patient hat eine Funktions- und/ oder Strukturstörung und das erste funktionstherapeutische oder strukturtherapeutische Gerät [FTG oder STG] wird angefertigt);
  • Registrat in TThRP (Patient hat eine Funktions- und/ oder Strukturstörung und ein weiteres FTG oder STG wird angefertigt oder ein bestehendes FTG oder STG im Artikulator überarbeitet).

Aufbissbehelfe für die Patientin

Bei der hier beschriebenen Patientin wird zuerst ein funktioneller Aufbissbehelf zur Behandlung der Myoarthropathie/ CMD angewandt, bis eine Beschwerdefreiheit oder ausreichende Besserung stattgefunden hat. Bei unserer Patientin kommen prinzipiell funktionstherapeutische Geräte zur Behandlung der Hyperaktivität und Hypertonie, sowie zur Entlastung der Myoarthropathie in Frage. Die Anwendung der Schienen in Kombination führen, zusammen mit der verordneten Physiotherapie, entweder zu einer vollständigen Remission der Beschwerden oder zu einer zufriedenstellenden Verbesserung. Erst danach werden in der rekonstruktiven Phase Okklusionsschienen – hier im Sinne von Langzeitprovisorien – zur Erprobung neuer okklusaler Aspekte eingesetzt.

Aufbissbehelfe – Grundlagen

In der Anwendung von Aufbissschienen im zahnärztlichen Alltag ist es hilfreich, diese in zwei Gruppen einzuteilen:

  • Okklusionsschienen zur Erprobung verschiedener okklusaler Aspekte bei rekonstruktiven Versorgungen (z. B. bei einer geplanten Vertikalerhöhung) – hierbei sind keine störenden Funktions- und Strukturstörungen im Kausystem feststellbar, die Zentrikfähigkeit ist gegeben, die Schienen werden auf den Zähnen aufgebracht (z. B. Langzeitprovisorien);
  • funktionelle Aufbissbehelfe (FTG und STG), zur Behandlung von Funktions- und Strukturstörungen im Kausystem. Sie dienen zur Wiederherstellung der Zentrikfähigkeit und werden, neben der Behandlung von Myoarthropathien, auch zur funktionellen Vorbehandlung bei definitiver Versorgung mit Rekonstruktion oder Kieferorthopädie bzw. innerhalb eines Netzwerks zur Mitbehandlung von Schmerzsyndromen außerhalb des Kausystems eingesetzt.

Funktions- und strukturtherapeutische Geräte – Wirkweise

Die Wirkweise der Aufbissbehelfe FTG und STG können folgendermaßen gegliedert werden:

  • neuromuskuläre Wirkung (hauptsächlich durch FTG): eine reaktive Abnahme oder Veränderung muskulärer Anspannungsmuster, bzw. ein Angebot zur Veränderung der Bewegungsrichtung bei parafunktionellen Aktivitäten, durch Umänderung der rezeptiven Information aus der Mundhöhle – hauptsächlich dentogen und parodontal, ggf. mukös;
  • muskuloskelettale bzw. mechanische Wirkung (nur durch bestimmte STG): die Einschränkung bestimmter Bewegungsräume durch Behinderung bestimmter Bewegungsrichtungen des Unterkiefers.

Hier ist wichtig zu verstehen, dass die Stärke der neuromuskulären Wirkung durch das Ausmaß autonomer, nicht bewusst steuerbarer Muskelanspannung (exzessive Parafunktion) bedingt wird. Dabei scheint die hemmende kortikale Wirkung auf tieferliegende motorische und emotionale Kerngebiete von hoher Bedeutung zu sein. Bei Abnahme dieser zentralen Hemmung bzw. bei Zunahme der Aktivität der tieferliegenden Kerngebiete (als Teil der Sensitisierung oder Hypersensibilisierung), werden Modulationsmöglichkeiten der Muskelaktivität durch Veränderung rezeptorischer Informationen (über Aufbissbehelfe) stark gehemmt oder unmöglich – und damit die Wirkung der funktionellen Aufbissbehelfe begrenzt! In unserem Fall heißt das: Es muss betrachtet werden, ob mit alleiniger Anwendung der Aufbissbehelfe eine ausreichende Minderung der parafunktionellen Tätigkeiten stattfindet.

Um zu einem Verständnis für die Veränderung der angestrebten Muskelfunktionen zu gelangen, ist das Wissen um drei grundsätzliche, im Hintergrund ablaufende Mechanismen zur Integration eines Reizes innerhalb des neuromuskulären Systems hilfreich.

  • Die reaktive Antwort: Der angewandte Reiz führt innerhalb (sehr) kurzer Zeit zu einer Veränderung der Muskelaktivität – z. B. bei einer zeitnahen Korrektur eines störenden Kontakts nach Eingliederung einer prothetischen Versorgung.
  • Die nicht-kognitiv trainierte Antwort: Der angewandte Reiz führt ohne bewusst-kognitive Beteiligung nach längerer Zeit zu einer Veränderung der Muskelaktivität – z. B. nach zweiwöchiger Schienentherapie oder der Anwendung von Selbstübungen bei muskulärer Hypertonie.
  • Die kognitiv trainierte Antwort: der angewandte Reiz dient zur bewusst-willentlichen Veränderung der Muskelaktivität eines unbewussten und reaktiv nicht veränderbaren Aktivitätsmusters – z. B. bei gezielter temporärer Anwendung des Interzeptors nach Schulte zur Lösung von Pressaktivitäten im Sinne der Selbstbeobachtung [5].

Bei allen drei Mechanismen können die Veränderungen der Muskelaktivität temporär oder permanent sein, in Abhängigkeit von Höhe oder Stärke der vorhandenen sensibilisierten Schmerz- und Muskelanspannungsmuster.

Werden nun alle Aspekte in Betracht gezogen, finden temporäre funktionelle Aufbissbehelfe sowohl in der Behandlung von Funktions- als auch Strukturstörungen ihre Anwendung. Da die Wirkung einerseits auf eine Verringerung der vermehrten Muskelaktivität ausgerichtet ist und andererseits eine mechanische Begrenzung darstellen kann, sind die Schienen bei hyperaktiven, hypertonen (funktionstherapeutische Geräte, FTG) und überbelasteten Situationen (strukturtherapeutische Geräte, STG) indiziert. Bei Koordinationsstörungen oder Limitationen mit Zunahme der Faserzahl ist die Anwendung als untergeordnet anzusehen. In diesen Fällen können die dabei meist ebenfalls vorhandenen Hyperfunktionen (Hyperaktivitäten, Hypertonien) und Überlastungen (entzündliche Schmerzen und Limitationen ohne Zunahme der Faserzahl) behandelt werden, damit sich spezielle physiotherapeutische und Übungs- Behandlungen, zur Koordinations- oder Mobilitätsverbesserung, einfacher durchführen lassen. Bei der Patientin bedeutet dies also, dass für ihre gelenkig-kapsulären Beschwerden ein strukturtherapeutisches Gerät und für ihre Hyperaktivitäten und Hypertonien funktionstherapeutische Geräte in Frage kommen. Die Behandlung der Koordinationsstörungen und der eingeschränkten Kapselmobilität werden nur vom Physiotherapeuten behandelt.

In der Behandlung von allen Funktions- und Strukturstörungen mittels funktionellen Aufbissbehelfen wird im Allgemeinen von einer 24-stündigen Tragezeit der Geräte abgeraten. Die dabei einsetzende Adaptation ist kontraproduktiv. Es sollte die prinzipielle Regel gelten, dass alle funktions- und strukturtherapeutischen Schienen so wenig wie möglich und gleichzeitig so viel wie nötig getragen werden. Betrachtet der Zahnarzt das Prinzip der nicht kognitiv trainierten Antwort als Ultima Ratio oder die Okklusion als Kausalfaktor für Störungen im Kausystem, wäre oben genannte notwendige Regel für ihn nicht anwendbar, da in diesem Fall eine 24-stündige Tragedauer nötig erschiene. Dies gilt jedoch ausschließlich für die Anwendung von Okklusionsschienen und nicht unbedingt für funktionelle Aufbissbehelfe.

Physiotherapie für die Patientin

Zusätzlich zu den Aufbissbehelfen ist für die Patientin Physiotherapie indiziert. Das gilt insbesondere für die Behandlung der Koordinationsstörung und der Limitation, denn diese beiden Zustände sind mittels Aufbissbehelfen als Monotherapie nicht behandelbar.

Hintergrund: Physiotherapie

Physiotherapie ist die Anwendung von Trainingsmethoden und physikalischen Reizen durch den Physiotherapeuten zur Wiederherstellung, Erhaltung oder Förderung der Gesundheit des Körpers, wobei der eigenverantwortliche Umgang mit dem Körper durch den Patienten im Vordergrund steht. Sie zielt auf die Beschwerden, Funktions-, Bewegungs- und Aktivitätseinschränkungen, die auf Patientenseite bestehen, ab. Die Behandlung wird an die anatomisch-physiologischen, psychoemotionalen, soziokulturellen, motivationalen und kognitiven Fähigkeiten des Patienten angepasst. Praktisch gesehen wendet der Physiotherapeut Folgendes an:

Bewegungen:

  • aktive Bewegungen durch den Patienten ohne Kontakt durch den Therapeuten, der Therapeut leitet an und/ oder korrigiert,
  • aktive Bewegungen durch den Patienten mit Kontakt zum Therapeuten, der den Behandelten lenkt oder Widerstand bietet,
  • passive Bewegungen durch den Therapeuten; der Patient entspannt und nimmt wahr (manuelle Therapie im weiteren Sinne): anguläre Bewegungen (im Allgemeinen passive Weiterführung aktiver Bewegungen), axiale Bewegungen (Kompression – Traktion) oder translatorische Bewegungen (Gleitbewegungen),
  • assistive Bewegungen durch Therapeut und Patient gleichermaßen in derselben Bewegungsrichtung.

Physikalische Therapien:

  • Massagen
  • Elektro- und Ultraschalltherapie
  • Hydro- und Balneotherapie
  • Thermo- und Kryotherapie

Spezifische Ziele in der Durchführung physiotherapeutischer Maßnahmen sind die Verbesserung oder Optimierung von:

  • Wahrnehmung, sensorischen, sensomotorischen und kognitiv-motivationalen Funktionen,
  • Durchblutung und Stoffwechsel,
  • neuromuskulären und myofaszialen Funktionen (Entspannung, Koordination, Reaktivität, Kraft, Ausdauer und Dehnung), sowie
  • muskuloskelettalen Funktionen (Mobilität und Stabilität).

Der Physiotherapeut/Manualtherapeut ist der Spezialist in der Behandlung von Mobilitätseinschränkungen bzw. Limitationen mittels passiven Behandlungstechniken. Keine andere Disziplin im Bereich der konservativen Mobilitätsverbesserung ist dafür so spezifisch ausgebildet. Physiotherapie ist somit unmittelbar in diesen Situationen indiziert – was somit auch für die Patientin gilt. Ansonsten empfiehlt es sich für den Zahnarzt, dann Physiotherapie zu verordnen, wenn bei einer bestehenden Behandlung mittels eines funktionstherapeutischen- und/oder strukturtherapeutischen Geräts keine ausreichende Verbesserung der Symptomatik stattfindet und nach erneuter Kontrolle der Diagnose(n) weiterhin eine Indikation zur Funktions- und/oder Strukturtherapie besteht.

Innerhalb der Behandlung von Funktions- und Strukturstörungen im craniomandibulären System können physiotherapeutische Maßnahmen als Eigenübungen vom Patienten zu Hause und/oder in der physiotherapeutischen Praxis unter Regie des Physiotherapeuten erfolgen. Im Allgemeinen benötigen Patienten zur effektiven Anwendung der Eigenübungen gezielte Anweisungen und Verlaufskontrollen. Das Üben nach einer Vorlage, ohne direkte Begleitung, ist nicht empfehlenswert. Die Anwendung eines Eigenübungsprogramms sollte jedoch, mit nur wenigen Ausnahmen, unbedingt erfolgen, wenn physiotherapeutische Maßnahmen angewandt werden.

Funktionsstörungen und Funktionstherapie – der allgemeine Kontext für unsere Patientin

Funktionsstörungen sind als muskuläre Aktivitätsveränderungen aufgrund einer „nervösen“ Veränderung im Nervensystem anzusehen (als Teil der Hypersensibilisierung oder Sensitisierung). Sie bestehen aus Situationen, in denen die Kau- und orofazialen Muskeln entweder zu viel (Bruxismus und/oder Muskelverhärtungen) oder zu wenig Aktivität und Tonus (Kau-, Schluck-, Atemund Sprechinsuffizienz) aufweisen, ohne bestehende organisch-neurologische oder Psychopathologie. Hyperfunktionen können in Hyperaktivität und Hypertonie unterteilt werden, Hypofunktionen haben jedoch keine Einteilung, sie werden auch koordinative Störung genannt. In der Diagnostik von Funktionsstörungen hat die klinische Untersuchung die bedeutsamste Rolle. Das ist daraus zu verstehen, dass die meisten Funktionsstörungen nicht symptomatisch verlaufen, sondern nur als Befunde erhoben werden. Anamnestisch sind Angaben zum Press- und Knirsch-Verhalten sowie Angaben zu persönlichen Belastungssituationen wesentlich. Bei der Patientin werden sowohl parafunktionelle Tätigkeiten als auch persönliche Belastungssituationen festgestellt.

Sind ausschließlich Funktionsstörungen vorhanden, sollte eine definitive Versorgung von okklusalen Veränderungen nicht erfolgen, die Dysfunktionen behindern jedoch nicht die rekonstruktive oder kieferorthopädische Behandlung an sich. Funktionstherapien finden somit entweder parallel zur okklusalen Therapie oder davor statt, in unserem Fall davor. Bei Patienten mit zusätzlichen Strukturstörungen wird gleichzeitig zur Strukturtherapie immer auch eine Funktionstherapie durchgeführt, was auch für die Patientin gilt. Patienten mit Symptomen in anderen Systemen mit dem (begründeten) Verdacht auf mögliche Einflussnahmemöglichkeiten aus dem Kausystem werden hauptsächlich einer Behandlung ihrer Hyperfunktionen (Hyperaktivität und Hypertonie) zugeführt. Sollten zudem Strukturstörungen vorhanden sein, müssen diese, in Rücksprache mit dem Überweiser, vorrangig behandelt werden.

Funktionstherapien beinhalten die Behandlung der einzelnen Faktoren der Hyper- und Hypofunktion sowie der Koordinationsstörungen. Dabei kommen neben dem Einsatz funktionstherapeutischer Geräte ebenfalls physiotherapeutische, logopädische und Eigenübungen in Betracht. Sie kommen somit zur Anwendung:

a) bei der funktionellen Vor- oder Mitbehandlung zum Erlangen von Zentrikfähigkeit bei Rekonstruktionen oder Kieferorthopädie und zur Mitbehandlung der Funktionsstörungen innerhalb des Kausystems bei Symptomen in entfernteren Systemen,

b) zur Behandlung der funktionellen Hintergründe bei Patienten mit schmerzhaften und/oder limitierten Unterkieferbewegungen.

In den folgenden Abschnitten werden die einzelnen Funktionsaspekte betrachtet. Neben den Komponenten, die für die Patientin wichtig sind, werden auch alle weiteren Möglichkeiten beleuchtet und ausführlich beschrieben.

Hyperaktivitäten werden diagnostiziert

In unserem Fall liegen Attritionen und keilförmige Defekte als Befunde, die die Hyperaktivität belegen, vor. Hyperaktivitäten sind erhöhte Muskelaktivitäten ohne organisch-neurologische und psychische Erkrankung. Sie werden patientenseits üblicherweise nicht oder nur äußert selten symptomatisch wahrgenommen; Folgeschäden, im Sinne von intraoralen Gewebeverletzungen, können jedoch zu Symptomen führen. Diese sind dadurch diagnostizierbar – und wurden bei der Patientin in der Art diagnostiziert –, dass der Behandler die Aktivitäten am entspannten Muskel als Befund ertasten oder bereits bei der Anamnese und äußeren Inspektion beobachten kann. Symptomatisch kann man intraoral die Folgen der Hyperaktivität nicht nur an Attritionen, keilförmigen Defekten, Schmelzabsplitterungen, Längsfrakturen usw. als Erscheinungen an der Zahnhartsubstanz erkennen, sondern daneben auch an Verletzungen der Schleimhaut (Bissstellen mit Entzündungszeichen) und/oder des Zahnhalteapparates (Rezessionen, lokale Zahnlockerungen) feststellen – oder der Patient kann den Kiefer nicht weit öffnen oder schließen: aufgrund eines Reflexspasmus der Kieferschließer.

Zur Behandlung hyperaktiver Unterkieferelevatoren sollten deaktivierende Maßnahmen erfolgen. Hier kommen zahnärztlich funktionstherapeutische Geräte im Sinne eines Reflexbehelfs im Betracht. Dies sind monomaxilläre Schienen, mit stark reduzierten okklusalen Kontakten zum Gegenkiefer. Typisch hierfür sind der Interzeptor nach Schulte (Abb. 8a-c) und der vorkonfektionierte NTI-tss® (Zantomed, Duisburg; Abb. 9), sie werden im Allgemeinen im Oberkiefer eingegliedert. Die Wirkweise ist idealerweise neuroreflektorisch: Die Muskulatur lässt ihre Spannung auf der Grundlage lokaler Zahn- und Parodontalbelastung reaktiv nach. In Abhängigkeit vom Ausmaß vorhandener sensibilisierter Spannungsmuster empfehlen die Autoren – kontrovers zur gängigen Meinung – die Anwendung ausschließlich tagsüber, weil die notwendigen anspannungshemmenden Mechanismen in der Nacht nicht sicher vorhanden sind!

  • Abb. 8a-c: Interzeptor nach Schulte - Aufbissbehelf für tagsüber zur Hyperaktivitätsbehandlung. Bildnachweis: Dr. Diether Reusch
  • Abb. 8b
  • Abb. 8a-c: Interzeptor nach Schulte - Aufbissbehelf für tagsüber zur Hyperaktivitätsbehandlung. Bildnachweis: Dr. Diether Reusch
  • Abb. 8b

  • Abb. 8c
  • Abb. 9: NTI-tiss® - Aufbissbehelf für tagsüber zur Hyperaktivitätsbehandlung. Bildnachweis: Dr. Christian Köneke
  • Abb. 8c
  • Abb. 9: NTI-tiss® - Aufbissbehelf für tagsüber zur Hyperaktivitätsbehandlung. Bildnachweis: Dr. Christian Köneke

Der Behandler soll von Anfang an bestimmen, ob das therapeutische Gerät passiv-reaktiv oder zum kognitiven Training angewendet werden soll. Im letzteren Fall wird eine Kombination von Refl exbehelf mit verschiedenen physiotherapeutischen Maßnahmen und Übungen zur Bewusstwerdung der Veränderung von Kaukräften (mittels Selbstbeobachtung, manuellen Dauerdrucks sowie über das Kauen von Gummibärchen, Kaugummi und Möhren oder Kohlrabi) dringend empfohlen. Bei der Patientin ist die Kombination von Aufbissbehelf und Physiotherapie angesagt. Eigenübungen werden deshalb angesetzt, weil ebenfalls Hypertonien und Koordinationsstörungen vorhanden sind.

Auffindbare Hypertonien

Unter Hypertonien werden Muskelverhärtungen verstanden, die nur an einzelnen Stellen innerhalb eines Muskels vorhanden sein oder auch den gesamten Muskel betreffen können – auch hier ohne organisch-neurologischen oder psychischen Hintergrund. Sie werden vom Patienten nicht oder nur selten symptomatisch wahrgenommen.

Muskelverhärtungen können ausschließlich über Muskelpalpation festgestellt werden. Dabei tastet der Behandler die möglichen betroffenen Muskeln ab und diagnostiziert dabei das Ausmaß der Verformbarkeitsabnahme (Verhärtung). Bei der Patientin sind diese sowohl in den Masseter- als auch in den Temporalismuskeln vorhanden, links deutlicher als rechts.

In der Behandlung von Hypertonien müssen detonisierende Maßnahmen angewandt werden. Das zahnärztlich gängige und von den Autoren ebenfalls empfohlene funktionstherapeutische Gerät zur Detonisierung ist die monomaxilläre Schiene mit zirkulärem Kontakt, welche ausschließlich in der Nacht getragen wird. Typisch hierfür ist die Michigan-Schiene, oder eine Abänderung desselbigen, für den Oberkiefer. Da bei der Patientin die koordinative Stabilität der nicht manuell geführten Schließbewegung vorhanden war (hierbei wird stets ein genauer Auftreffpunkt erreicht), empfahlen die Autoren die Anwendung des Westerburger funktionstherapeutischen Geräts nach Reusch und Groot Landeweer (Abb. 10a-c). Für die Patientin ist dies, zur Behandlung der Hypertonien, die Therapie der Wahl. Dieser Aufbissbehelf ist eine modifizierte Michigan-Schiene, im Allgemeinen für den Oberkiefer, wobei alle statischen Okklusionskontakte im Seitenzahnbereich und alle Führungskontakte (protrusive, laterotrusive und ggf. retrusive) im Frontzahnbereich lokalisiert sind. Laterotrusive Kontakte werden systematisch entfernt. Im Seitenzahnbereich ist der Behelfplan (ohne Einbisse des Gegenkiefers), nur die Stampfhöcker der Seitenzähne haben Kontakt zur Schiene. Die Front-Eckzahn-Führung ist so flach wie möglich und so steil wie nötig. Die mittleren Inzisiven führen nach protrusiv, die Eckzähne nach lateral. Sollten retrusive Führungsflächen notwendig sein, werden sie so angefertigt, dass die linguale Fläche der unteren mittleren Inzisiven als Führung dienen können.

  • Abb. 10a-c: Westerburger FTG - multiples einsetzbares Gerät.
Bildnachweis für Abb. 10-12: Dr. Diether Reusch
  • Abb. 10b
  • Abb. 10a-c: Westerburger FTG - multiples einsetzbares Gerät. Bildnachweis für Abb. 10-12: Dr. Diether Reusch
  • Abb. 10b

  • Abb. 10c
  • Abb. 10c

Bei Verlust der koordinativen Stabilität (stark wechselnde Kontaktpunkte bei nichtgeführtem Schließen) empfehlen die Autoren die kurzfristige Maximierung okklusaler Kontakte mittels Aqualizer© (Abb. 11) oder über eine Stabilisierungsschiene mit ggf. starkem Einbiss (Abb. 12a u. b) sowie eine gleichzeitige Behandlung der Hyperaktivität sowie der Koordination des Kauens. Der Stabilisierungsbehelf wird in der Regel im Unterkiefer eingegliedert. Durch die starke Verschlüsselung des Bisses können exzentrische Vorkontakte nicht gänzlich vermieden werden.

  • Abb. 11: Aqualizer® in situ.
  • Abb. 12a: Stabilisierungsschiene für ...
  • Abb. 11: Aqualizer® in situ.
  • Abb. 12a: Stabilisierungsschiene für ...

  • Abb. 12b: ... den Unterkiefer.
  • Abb. 12b: ... den Unterkiefer.

Eine Verstärkung des detonisierenden Effekts kann durch die Anwendung von Eigenübungen unterstützt werden. Hier kommen Dehnungen der hypertonen Muskeln in Quer- und Längsrichtung in Betracht (Abb. 13a u. b). In der physiotherapeutischen Praxis werden neurologische Reflexmechanismen im Sinne der postisometrischen Relaxation (Muskelentspannung im Anschluss an Muskelanspannung) und der reziproken Hemmung (Muskelentspannung der Antagonisten bei Anspannung der Agonisten) an die Dehnungsübungen angefügt, um somit den detonisierenden Effekt zu verstärken (Abb. 14).

  • Abb. 13a: Eigenübungen: Muskeldehnungen in Quer-  ...
  • Abb. 13b: ... und Längsrichtung. 
Bildnachweis Abb. 13 u. 14: Gert Groot Landeweer
  • Abb. 13a: Eigenübungen: Muskeldehnungen in Quer- ...
  • Abb. 13b: ... und Längsrichtung. Bildnachweis Abb. 13 u. 14: Gert Groot Landeweer

  • Abb. 14: Physiotherapie: Anwendung von postisometrischer Relaxations- und reziproke Hemmungstechniken.
  • Abb. 14: Physiotherapie: Anwendung von postisometrischer Relaxations- und reziproke Hemmungstechniken.

Hintergrund: Hypertonien und Hyperaktivitäten kombiniert

Bei einer Kombination von extremen hyperaktiven und hypertonen Zuständen, mit starker Attrition der Zähne, käme zahnärztlich ein bimaxilläres Gerät für die Nacht – z. B. das Bremer CMD-Device nach Dr. Köneke® – infrage, wobei neben Monoblock, Doppelschiene und Doppelplatte – mit oder ohne gelenkige Verbindung – auch vorkonfektionierte Behelfe wie ein Sportmundschutz in Betracht gezogen werden sollten. Im Gegensatz zur Anwendung bei schmerzhaften Arthropathien dient das bimaxilläre Gerät nicht zur Gewebeprotektion, sondern nur dazu, mithilfe mechanischer Prinzipien ein Gegengewicht zu den vorhandenen muskulären Kräften zu bieten, um so das exzessive Ausmaß der parafunktionellen Unterkieferbewegungen einzugrenzen (Abb. 15a u. b). Die vorhandenen Scharniere bei der Doppelschiene mit Verbindung bieten eine gewisse Einschränkung für die Unterkieferbewegungen in der Horizontalbewegung, vornehmlich nach retral. Alternativ dazu können mithilfe seitlicher Schilde am Westerburger funktionstherapeutischen Gerät (FTG) im Oberkiefer die gleichen Erfolge erzielt werden (Abb. 16a u. b). Hierzu werden im Seitenzahnbereich Schilde an der Schiene befestigt, die dazu dienen, die Horizontalbewegungen deutlich zu behindern und damit die parafunktionelle Tätigkeit in der Nacht einzuschränken. In manchen Fällen sollten Vertikalisierungsschienen angewandt werden, die es den Kieferschließern – durch die erzwungene Kieferöffnung – stark erschweren, übermäßige Kräfte aufzubauen (Abb. 17a-c). Achtung: Die Anwendung bimaxillärer Geräte und Vertikalisierungsschienen sollte nur von Behandlern vorgenommen werden, die auf Funktionstherapie spezialisiert sind. Engmaschige Kontrollen sind notwendig!

  • Abb. 15a: Bremer CMD-Device ...
  • Abb. 15b: … nach Dr. Köneke.®
Bildnachweis Abb. 15a u. b: Dr. Christian Köneke
  • Abb. 15a: Bremer CMD-Device ...
  • Abb. 15b: … nach Dr. Köneke.® Bildnachweis Abb. 15a u. b: Dr. Christian Köneke

  • Abb. 16a-c: FTG mit Schilden zur Reduktion parafunktioneller Aktivitäten.
  • Abb. 16b
  • Abb. 16a-c: FTG mit Schilden zur Reduktion parafunktioneller Aktivitäten.
  • Abb. 16b

  • Abb. 16c
  • Abb. 17a-c: Vertikalisierungsschiene.
  • Abb. 16c
  • Abb. 17a-c: Vertikalisierungsschiene.

  • Abb. 17b
  • Abb. 17c
  • Abb. 17b
  • Abb. 17c

Die Patientin zwischen Hypertonie und Hyperaktivität

Schwer behandelbare hypertone Kaumuskeln können zusätzlich tagsüber mittels oben beschriebener Reflexschienen und auch in Kombination mit den dort erwähnten physiotherapeutischen Übungen behandelt werden.

Hintergrund dabei ist, dass sich nicht selten hinter einer Hypertonie eine Hyperaktivität der Muskeln verbirgt. In diesem Kontext findet sich auch die Patientin wieder: Es gibt neben der Hypertonie auch noch Hyperaktivität und Koordinationsstörungen. Somit macht eine Kombinationstherapie von detonisierenden und deaktivierenden Maßnahmen einen Sinn und ist hilfreich.

Bei der Patientin führten diese Gesamtmaßnahmen nicht vollständig zum gewünschten Ziel – aufgrund der persönlichen Belastungssituation. In solchen Fällen sind allgemeine Körperwahrnehmungsübungen angebracht – z. B. Feldenkrais oder Yoga oder auch Entspannungsübungen wie progressive Muskelentspannung oder MBSR (mindfulness based stress reduction nach Jon Kabat-Zinn). Eine Empfehlung in dieser Richtung wurde gegenüber der Patientin ausgesprochen. Nicht selten benötigt der Behandler an dieser Stelle ein gutes Patienten-Handling mit professionellen neutralempathischen Kommunikationstechniken.

Bei der vorgestellten Patientin hatten die bisherigen Gesamtmaßnahmen noch nicht ganz zum gewünschten Ziel geführt – u. a. aufgrund der persönlichen Belastungssituation. Hinter ihrer Hypertonie verbargen sich auch eine Hyperaktivität der Muskeln sowie Koordinationsstörungen.

Es wurden auch Koordinationsstörungen festgestellt

Koordinationsstörungen beinhalten den Verlust der Präzision muskulärer Aktivitäten, ohne zugrunde liegende organisch-neurologische oder psychische Erkrankungen. Innerhalb des Kausystems beinhaltet es eine Kau-, Schluck-, Atem- und/oder Sprechinsuffizienz. Koordinationsstörungen werden durch aktive Bewegungen festgestellt. Bei der Patientin belegt ein Präzisionsverlust innerhalb der horizontalen Unterkieferbewegungen die Hypofunktion der lateralen Pterygoidmuskeln, die mangelnde Zerkleinerung eines Kohlrabistückchens den Präzisionsverlust der Kaubewegungen.

  • Abb. 18a-c: Eigenübungen: Koordinationsübungen für die Mm. pterygoidei laterales. © Gert Groot Landeweer

  • Abb. 18a-c: Eigenübungen: Koordinationsübungen für die Mm. pterygoidei laterales. © Gert Groot Landeweer
Die Behandlung der Koordinationsstörung erfolgte wie üblich ausschließlich durch physiotherapeutische Maßnahmen und Eigenübungen (Abb. 18a-c). Eine zahnärztlich funktionelle Aufbissbehandlung kommt nicht in Frage. Sollte die Koordinationsverbesserung jedoch durch eine vorhandene Hyperfunktion gehemmt werden, benötigt man gegebenenfalls Hyperaktivitäts- und Hypertonie-Behandlungen, indem dann die jeweiligen funktionstherapeutischen Geräte ihre Anwendung finden können. Somit bekommt die Patientin Eigenübungen für die Verbesserung der Horizontal- und Kaubewegungen.

Strukturstörungen und Strukturtherapie schieben definitive Rehabilitation auf

Strukturstörungen sind als Gewebeschäden (gewebliche Überlastung) oder vermehrte Vernarbungen, nach einem Gewebeschaden oder als Verklebungen nach längerem Bewegungsmangel innerhalb der Strukturen des Bewegungsapparates des Kausystems anzusehen. Sie sind in Arthro- und Myopathien einteilbar. Beim Vorhandensein von Strukturstörungen können geplante okklusale Rehabilitationen oder kieferorthopädische Maßnahmen nicht durchgeführt werden oder müssen, wenn möglich, unterbrochen werden. Nur dentale und/oder parodontale Notfallmaßnahmen sind davon ausgenommen. Strukturtherapien müssen somit stets vor der okklusalen Therapie stattfinden, ungeachtet des kieferorthopädischen oder rekonstruktiven Behandlungsbedarfs. Für die Patientin bedeutete dies nun, dass die Rehabilitation erst nach erfolgreicher Behandlung der Funktionsund Strukturstörungen erfolgen konnte.

Strukturstörungen zeigen sich als entzündliche Bewegungsschmerzen oder Bewegungseinschränkungen des Unterkiefers. Sie entstehen nach einem mechanischen Trauma (auch Bagatelle wie Schlafhaltung, zahnärztliche Maßnahmen, z. B. eine Extraktion, oder Knirschaktivitäten), sowohl spontan ohne erkennbaren Anlass als auch langsam progredient. Letztere sind häufig über eine lange Zeit für den Patienten unbemerkt vorhanden (insbesondere Limitationen mit Faserzahlzunahme). Sie werden provoziert oder verstärkt bei Unterkieferbewegungen. Es liegen – bei der Patientin und allgemein gesprochen – keine anderen organischen oder psychischen Erkrankungen (differenzialdiagnostischer Ausschluss) vor, die die vorhandenen Symptome erklären können.

Hintergrund: Diagnostik von Strukturstörungen und deren Entlastung oder Dehnung

In der Diagnostik von Strukturstörungen kommt der Anamnese eine bedeutende Rolle zu. Die Autoren wissen aus Erfahrung, dass ca. 80 % der diagnostischen Information anamnestisch erhalten werden, ca. 15-20 % aus der klinischen Untersuchung und, wenn nötig, ca. 5 % aus instrumentellen und bildgebenden Verfahren. Eine gründliche Beschwerdeanamnese, einschließlich möglicher Entstehungsmechanismen, bisherige diagnostische und therapeutische Maßnahmen, Annahme des Patienten über die Diagnose und deren Ursache sowie über Wünsche und das Behandlungsziel stehen in der Beurteilung von Strukturstörungen zentral. In den klinischen Untersuchungen benötigt der Zahnarzt zunächst nur Standarduntersuchungen oder Screening-Tests um zu bestimmen, ob eine Strukturstörung vorliegt. Erweiterte Untersuchungen dienen dann der Differenzierung innerhalb der Strukturstörungen, um so zu einer exakten gewebespezifischen Diagnose zu gelangen. Klinische und instrumentelle Okklusionsanalysen haben in Bezug zur gewebespezifischen Diagnose auch in der diagnostischen Phase eine vergleichende dokumentarische Bedeutung. Sie tragen nicht zur gewebespezifischen Diagnose bei, können jedoch einen möglichen okklusalen Begleitfaktor belegen – was bei der Patientin feststellbar ist. Aufzeichnungen von Unterkieferbewegungen, mittels kinematischen Aufzeichnungsgeräten, können das Bewegungsmuster des Unterkiefers bildhaft darstellen und dienen hauptsächlich zur vergleichenden Dokumentation bei Gelenkgeräuschen und Limitationen. Eine gewebespezifische Diagnose lässt sich aus den Aufzeichnungen alleine nicht ableiten.

Bei den schmerzhaften Zuständen ist zu beachten, dass nur die entzündlichen eine Behandlung im Sinne einer absoluten Entlastung mittels Strukturtherapie (in Kombination mit Funktionstherapie) benötigen. Reizzustände werden mit einer relativen Entlastung mittels Funktionstherapie behandelt, und Überempfindlichkeiten werden nach einer Aufklärung mit begleitender kognitiver Therapie (Bewusstwerdung) oder Psychotherapie angegangen. Bei der Patientin wurden traumatisch-entzündliche Prozesse sowohl in der Gelenkkapsel als auch in den Kaumuskeln nachgewiesen. Zudem liegt bei ihr eine Limitation mit Faserzahlzunahme vor (Retraktion der Gelenkkapsel). Aus diesen Gründen benötigt sie eine absolute Entlastung. Limitationen können mit oder ohne Faserzahlzunahme auftreten, wobei letztere typischerweise vorkommen bei: reaktiven Muskelanspannungen (Reflexspasmen) oder bei einer Verlagerung/Luxation des Kieferköpfchens hinter den Diskus (posteriore kondyläre Luxation ohne kondyläre Reposition). Die Diskusverlagerung ohne Reposition, wie letztere Situation gängig bezeichnet wird, kann auf Dauer mit Verkürzungen/Verklebungen von Bindegewebe, Muskulatur und/oder Gelenkkapsel, und somit Faserzahlzunahmen, einhergehen. Limitationen ohne Faserzahlzunahme werden hauptsächlich durch eine relative Entlastung mittels Funktionstherapie therapiert. Limitationen mit Faserzahlzunahme benötigen eine absolute Entlastung mittels Strukturtherapie (in Kombination mit Funktionstherapie).

Die Überlastung bindegewebiger Strukturen myoarthrogener Gewebe und ggf. damit einhergehende Bewegungseinschränkungen werden prinzipiell mit den gleichen temporären funktionstherapeutischen Geräten behandelt, wie sie bereits zur Behandlung der Hyperfunktion (Hyperaktivität und Hypertonie) beschrieben wurden. Das vorrangige Prinzip hierbei ist die Entlastung der entzündeten oder verlängerten Struktur durch die Deaktivierung und Detonisierung der Muskulatur. Ergänzend dazu bieten einige Aufbissbehelfe – über die Funktionsverbesserung hinaus – die Möglichkeit, positionierend und limitierend wirksam sein zu können. Diese Eigenschaften werden in der Strukturtherapie gezielt eingesetzt.

In Abhängigkeit von Schmerzdauer und -intensität bzw. vom Ausmaß der schmerzhaften Limitation können die strukturtherapeutischen Geräte auch über einen begrenzten Zeitraum hinweg rund um die Uhr getragen werden. Nach erfolgter Besserung des Ruheschmerzes bzw. nach Besserung der (permanenten) Limitation sollte die Trennung der Schienentherapie im Sinne eines möglichen Reflexbehelfs für tagsüber und eines detonisierenden Behelfs für die Nacht erfolgen.

Besonders wichtig für die Autoren ist jedoch die praktische Erkenntnis, dass Strukturstörungen nicht immer unbedingt eine Strukturtherapie benötigen, jedoch stets eine Funktionstherapie. Somit dient auch zur Überprüfung des Therapieerfolgs nicht nur die Besserung struktureller Kriterien (Schmerzen und Limitation), sondern im Besonderen die Besserung der funktionellen Aspekte (Hyperaktivität, Hypertonie und Koordinationsstörungen).

Gelenkgeräusche im Sinne eines Gelenkknackens oder Gelenkreibens ohne gleichzeitige schmerzhafte oder limitierende Zustände sind im Allgemeinen als Belastung und nicht als bestehende oder drohende Überlastung anzusehen. Ausnahmen davon sind schnelle progrediente Knackphänomene mit geweblichen Reizphänomenen (richtungsspezifische, lokale, nicht entzündliche Schmerzen). Gelenkgeräusche benötigen keine absolute Entlastung, eine relative Entlastung mittels Funktionstherapie (häufig die Behandlung der Hyperfunktion) ist je nach Ausgangslage angebracht (siehe auch im weiteren Verlauf des Beitrags).

Bei der vorgestellten Patientin wurden traumatischentzündliche Prozesse sowohl in der Gelenkkapsel als auch in den Kaumuskeln nachgewiesen. Im Folgenden geht es insbesondere um die Behandlung der Gelenkschmerzen.

Teil 2 dieses Beitrages finden Sie unter dem untenstehenden Link.

Näheres zum Autor des Fachbeitrages: Gert Groot Landeweer - Dr. Diether Reusch

Bilder soweit nicht anders deklariert: Gert Groot Landeweer , Dr. Diether Reusch