Neue systematische Wege in der Altersprothetik

Der Autor ZTM Horst-Dieter Kraus bricht eine Lanze für konsequent patientengerecht gestaltete Prothetik. Er führt vor und erläutert, welche spezifischen Anforderungen bei Senioren neben den Grundregeln der Funktionslehre zu berücksichtigen sind. Es geht ihm um die physiologisch korrekte Gestaltung mit dem Ziel der Langfristigkeit und Ästhetik.
Selbst im hohen Alter besitzen viele Menschen noch eine Eitelkeit und auch der Anspruch, einem bestimmten Schönheitsideal zu genügen, verliert für sie niemals an Wichtigkeit. Ansprüche, die heute an uns im zahnärztlich-zahntechnischen Team gestellt werden, sind ein voller, nahezu faltenfreier Mund und Sicherheit beim Auftreten in Gesellschaft, vor allem aber: wirklich noch „Biss“ zu haben! Auch im Zeitalter von Elektronik, Scannern und CAD/CAM wird für diese neuen Techniken immer noch das Wissen über Funktionen des Kausystems, der Okklusion, Ästhetik, Harmonie und die handwerkliche Umsetzung verlangt (Abb. 1-4).
-
Abb. 2: Vorher – nicht gerade ein strahlendes Lächeln.
-
Abb. 3 u. 4: Nachher – Lächeln, wie es sein soll.
Forderungen an Prothetik einschließlich Totalprothetik
Stand Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre die Funktion im Mittelpunkt (Veneers und vollkeramische Systeme existierten nur am Rande), so gerät sie heutzutage mehr und mehr zu einer ungeliebten Randerscheinung. Dennoch erleben die klassischen Aufwachstechniken nach Payne-Lundeen, P.K. Thomas – damals exzessiv ausgelebt in Inlay-Onlay-Straßen und Metallkauflächen bei VMK-Versorgungen – und das biomechanische Prinzip von M. H. Polz im Augenblick bei den Lithium-Disilikat-Presskeramiken und Zirkoniumdioxid eine Renaissance (Abb. 5). Da sich diese Werkstoffe durch große Härte auszeichnen, können funktionell falsch gestaltete Kauflächen vom Patienten nicht mehr „eingeknirscht“ werden und führen daher auf lange Sicht zu Myoarthropathien (Kiefergelenksbeschwerden), Parafunktionen und zu resultierenden weiteren Problemen.
Jedoch bei totalem und kombiniertem Zahnersatz fristet die Funktionslehre (und mit ihr die Aufwachstechnik) seit vielen Jahren ein eher stiefmütterliches Dasein. Dabei sind die Bewegungsabläufe in einem zahnlosen oder nur noch mit wenig Zähnen bestückten Kiefer dieselben wie bei einem vollbezahnten. Dies bedeutet, dass Vollprothesen und kombinierte Arbeiten auf natürlichen Pfeilern oder Implantaten gleich „funktionieren“ wie festsitzender Zahnersatz und deshalb nach den gleichen Funktionsprinzipien angefertigt werden müssen.
Der Weg für unsere Patientin
Die prothetische Ausgangssituation (Abb. 6) im hier dargestellten Fall: Im Oberkiefer waren sechs, im Unterkiefer vier Implantate inseriert worden. Das Planungsziel sah abnehmbaren Zahnersatz mit Teleskopen als Halteelemente vor. In ästhetischer Hinsicht sollte ein „aktiveres“ Erscheinungsbild erreicht werden: Wenn die Patientin lächelt, soll sie die oberen Frontzähne entblößen können (Abb. 7). Das ist bei der labialen Ausgestaltung der Zähne und Lippenstützung zu berücksichtigen. Für die Natürlichkeit sollten die Frontzähne Pala Premium 6 (Heraeus Kulzer, Hanau) sorgen (Abb. 8). Die Frontzahnaufstellung erfolgte mithilfe der vorhandenen Prothese. Bei dieser wurden die alten Frontzähne Zahn für Zahn entfernt. Die Aufstellung der neuen Frontzähne (Abb. 9-12) erfolgte nach ästhetischen und phonetischen Aspekten. Manchmal ist allein die Aufstellung der oberen mittleren Frontzähne sehr zeitaufwendig (Gesichtsmitte, richtige sichtbare Zahnlänge bei S- und F-Lauten). Auch die Zahnlänge nach cranial (Beginn der künstlichen Gingiva) wird direkt am Patienten festgelegt.
-
Abb. 6: Ausgangssituation. OK mit 6 Implantaten, UK mit 4 Implantaten.
-
Abb. 7: Obere Frontzähne sind auch beim Lächeln kaum zu sehen. Das soll die neue Prothetik ändern.
-
Abb. 8: Die Premium Zahnformen mit 3D-Multilayering-Schichtung, Opaleszenz und Transparenz sind identisch mit natürlichen Zähnen und lassen sich mit verschiedenen Seitenzahnlinien unterschiedlicher Höckerneigung kombinieren.
-
Abb. 9-12: Die Frontzahnaufstellung.
Als die Aufgabe zur Zufriedenheit aller Beteiligter gelöst war, wurden die Seitenzähne neu aufgestellt. Die alte Prothese war acht Jahre lang getragen worden (Abb. 13-17) und die Kauflächen zeigten sich jetzt stark abradiert. Es hatte sich ein deutlicher Verlust der ursprünglichen Bisshöhe eingestellt. Als Folge erschien die Gesichtslänge verkürzt – dies führt zu einem älter wirkenden Aussehen. Die Neuaufstellung sollte dieses Manko beheben. Aber: Es müssen Seitenzähne mit flacher Höckerneigung verwendet werden, da ältere Patienten mit steilen Höckern erfahrungsgemäß nicht zurechtkommen. Den Bedürfnissen im Seniorengebiss (Abb. 18) entspricht der Seitenzahn Pala Idealis 8 (Heraeus Kulzer). In unserem Fall lag eine Zahn-zu-Zahn-Beziehung vor (vgl. Abb. 13). Der Unterkiefer zeigte sich um eine halbe Prämolarenbreite nach distal verschoben. Die entsprechende Individualisierung bei der Neuaufstellung (Abb. 19-29) erfordert etwas Zeit, sowohl beim Einschleifen der Zähne als auch bei der Realisierung der Stopps.
-
Abb. 13: Okklusion nach 8-jähriger Tragezeit.
-
Abb. 14-17: Stark abradierte Kauflächen führen zum Verlust der ursprünglichen Bisshöhe.
-
Abb. 18: Pala Idealis 8 ist eine für die Implantat- und Geroprothetik entwickelte Seitenzahnlinie mit natürlich reduzierten Höckern, welche einen Bewegungsfreiheitsgrad von mindestens 0,5 mm in jede Richtung aus der eindeutigen Zentrik heraus bietet. Dies harmonisiert implantatretinierte mit gingivalgelagerter Prothetik, selbst bei schwieriger Zentrik und CMD-Problematik.
-
Abb. 19-21: Kontaktbeziehung. Okklusale Stopps bei Neutralverzahnung (Zahn-zu-zwei-Zahn-Beziehung).
-
Abb. 22: Vorhandene Prothese zur Fertigstellung vorbereitet.
-
Abb. 23 u. 24: Okklusale Stopps nach Polymerisation und Reokkludieren der Prothesen. Die Lage der Stopps entspricht der korrekten Lage der Stopps bei festsitzendem Zahnersatz.
-
Abb. 25: Front-Eckzahnführung.
-
Abb. 26: Gruppenführung bei Laterotrosion. Ziel ist die sequentielle Laterotrosionsführung.
-
Abb. 27: Führungsschliffflächen bei retrusiver Surtrusion.
-
Abb. 28: Balancen bei Mediotrusion mit Immediate Sideshift von 2,5 mm.
-
Abb. 29: Finish der Exkursionsbewegungen auf dem Gipsrüttler mit Bimsmehl zwischen den Zahnreihen.
Danach erfolgte die Vorbereitung der Prothese zur Individualisierung der Gingiva. Die beste Methode liegt im intuitiven freien Schichten entsprechend dem Patientengesicht.
Zur Umsetzung diente das lichthärtende Colorfluid-Material Pala cre-active. Unter ständiger optischer Kontrolle wird die Charakterisierung (Abb. 30-34) bis zum Erreichen der individuellen Farbe und Form durchgeführt (Abb. 35).
-
Abb. 30-34: Vorbereitung der Prothese zur Individualisierung der Gingiva.
-
Abb. 35: Die fertige Arbeit im Mund des Patienten.
Wie lange soll die Prothetik halten?
Hinter vorgehaltener Hand wird darüber spekuliert, dass die heutige Technik mit sehr harten Materialien und zufälliger (???) Okklusion nicht die Langzeiterfolge erzielen wird wie gnathologisch korrekt gefertigte Arbeiten der 80er und 90er Jahre; diese funktionieren häufig noch bis heute! Allerdings sehen wir: Deren anfängliche Point-Zentrik nutzte sich im Lauf der Jahrzehnte so ab, dass sich eine durch den täglichen Gebrauch entstandene Schliffflächenokklusion einstellte. Aber: Nach Motsch findet man diese Okklusion mit planparallelen Schliffflächen im Mikrometer-Bereich auch in der Anthropologie bei natürlichen Gebissen, die niemals eine Zahnbehandlung erfahren hatten.
Auch die anfängliche Front-Eckzahn-geführte Okklusion verliert im Lauf der Jahre an Führungsdominanz und es stellt sich allmählich eine Gruppenführung ein. Voraussetzungen sind allerdings, dass die Okklusionskurven harmonisch sind und die B-Kontakte auf den richtigen Abhängen liegen. Im weiteren Verlauf entstehen dann auch Balance-Kontakte und mit der Zeit kommt es zu einem gleichmäßigen Gleiten der Zähne, das auf keinen Fall eingeschliffen werden sollte (da es sich ja wie im natürlichen Gebiss so von selbst entwickelt hat). Die Stampfhöcker der unteren Zähne müssen sich in den mesialen Gruben oder auf den Randleisten der oberen Seitenzähne abstützen, da sie sonst bei der Medioprotrusion aneinander hängen bleiben. In der Folge würden sich starke Schliffflächen ausbilden, die nicht physiologisch sind und zu starken Beschwerden führen (Zähne werden locker, Kiefergelenksbeschwerden treten auf).
Deshalb müssen diese Prinzipien umso mehr bei den gegenwärtig modernen und sehr harten Materialien Anwendung finden, da sonst mit einer starken Zunahme von craniomandibulärer Dysfunktion, Kiefergelenksbeschwerden und Zahnlockerungen zu rechnen ist. Besonders bei implantatgetragenen Restaurationen müssen horizontale Schubkräfte durch präzise Gestaltung der Funktion vermieden werden, da diese sonst zu vorzeitigem Implantat-Verlust führen. Man könnte fast meinen, dass die Zahnmedizin – ähnlich wie die Automobilindustrie – von qualitativ hochwertigen, an Langfristigkeit ausgerichteten Produkten auf eine kurzfristig angelegte schnelle, reparatur- und erneuerungsbedürftige Minderqualität umschwenkt. Zahnersatz soll wie dort offensichtlich nicht mehr länger als zehn Jahre halten. Diese Mentalität kommt aber auch aus der Bevölkerung und von den Krankenkassen, wo ein Suchen nach Billigangeboten über das Internet propagiert wird. Dem stemme ich mich mit meiner Methode vehement entgegen.