Teil 1: Ein systematisches Konzept in der Totalprothetik

In der Totalprothetik gibt es viele Konzepte und diverse Lehrmeinungen, die sich unter anderem bei der Abformung, der Kieferrelationsbestimmung sowie den Aufstellkriterien voneinander unterscheiden. Das Autorenteam beschreibt anhand eines Patientenfalls seinen Weg bei der Fertigung einer funktionell-ästhetischen Totalprothese. Die seit vielen Jahren bewährten Regeln der Totalprothetik werden in diesem zweiteiligen Beitrag ebenso betrachtet wie innovative Entwicklungen bei den Konfektionszähnen. Die Kernaussage des Artikels stützt sich aber nicht nur auf fundiertes Fachwissen, sondern auch auf patientenindividuelles Handeln.
Jeder fachkundige Zahntechniker sollte sein Wissen aktuell halten sowie gelernte prothetische Grundlagen hin und wieder auffrischen. In Zeiten von CAD/CAM und anderen digitalen Technologien scheinen viele bekannte Parameter in Vergessenheit zu geraten, die klassischen Prinzipien werden leider nur selten thematisiert. Doch trotz der Unterstützung durch Konstruktionssoftware – mit all ihren Vorteilen – gehört das Wissen um Grundlagen (Statik, Funktion, Phonetik, Ästhetik) in jedes Labor und sollte auch dem „digital arbeitenden“ Zahntechniker nicht fremd sein. In diesem Artikel wird darauf eingegangen, wie ein bewährtes Konzept der Totalprothetik mit ästhetisch hochwertigen Konfektionszähnen realisiert wird. Methodisch werden auch bekannte Zwischenschritte dokumentiert, sodass der vorliegende Beitrag als Arbeitsanleitung verwendet werden kann.
Der zahnlose Patient
Wird die Totalprothese ein Auslaufmodell? Nein, auch wenn die sehr guten umfassenden Zahnerhaltungsmaßnahmen der modernen Zahnmedizin diesen Anschein erwecken. Basierend auf der demografischen Entwicklung und der immer höheren Lebenserwartung wird es einen Zuwachs an zahnlosen Patienten geben. Insbesondere die Möglichkeit der Implantatgestützten herausnehmbaren Versorgung erhöht die Bedeutung der Totalprothetik. Allerdings wird diese nach wie vor in vielen Praxen und Laboren stiefmütterlich gehandhabt. Ein Fauxpas, unter dem letztlich die Patienten leiden. Auch monetäre Faktoren sind ausschlaggebend für die Entscheidung für oder gegen einen Implantat-getragenen Zahnersatz.
In einer Studie von Misch et al. wurden 1991 objektive Kriterien zur Zufriedenheit von Patienten mit totalem Zahnersatz veröffentlicht [1]. Bewertet wurden Sprache, Komfort, Funktion, Stabilität und Aussehen. Das Ergebnis: Die Beschwerden zur Funktion des Zahnersatzes dominierten. Im Unterkiefer waren 82 Prozent der Patienten unzufrieden, im Oberkiefer waren es „nur“ 33,6 Prozent. Etwa 90 Prozent (!!) der Patienten äußerten sprachliche Probleme. 62,5 Prozent klagten über lockere Prothesen im Unterkiefer beim Essen und Sprechen. 17 Prozent gaben an, ohne Zahnersatz besser essen zu können. Ein fast schon deprimierendes Ergebnis, insbesondere wenn man den Zusammenhang zwischen der Lebensqualität der Patienten und der Zufriedenheit mit ihren Totalprothesen betrachtet, wie Yoshida et al. in einer Studie [2]. Die Autoren stellten fest, dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen der allgemeinen Lebenszufriedenheit und der Zufriedenheit mit dem Zahnersatz gibt. Ältere Menschen, die in ihrem täglichen Leben glücklich sind, waren auch mit ihren Totalprothesen zufrieden. Einbezogen wurden bei dieser Studie unter anderem Nahrungsaufnahme, gesundheitliche Probleme, tägliches Arbeiten, soziales Leben, körperliche Gesundheit und Schlafqualität.
Die Schlussfolgerung: Schaffen wir es als Behandlungsteam, dem Patienten mit einer Totalprothese das subjektive Gefühl „eigener“ Zähne zu vermitteln, dann tragen wir zu einem Großteil zu Wohlbefinden und Gesundheit bei. Mit einem durchdachten und systematisch abgestimmten Konzept und den entsprechenden Materialien können wir dies auf effizientem Weg erreichen, so wie im folgenden Patientenfall vorgestellt. Mit Implantaten ist in der Totalprothetik der herausnehmbare Zahnersatz auf Locatoren eine adäquate Lösung, da hier Extensionen (wie Lippenschild) und sonstige kosmetische Korrekturen vorgenommen werden können. Zudem ist eine sehr gute Hygienefähigkeit gegeben.
Diagnose
Die Patientin – eine langjährige Totalprothesenträgerin – konsultierte die Zahnarztpraxis mit einem insuffizienten Zahnersatz (Abb. 1). Sie wünschte sich Prothesen, die sie nachhaltig zufriedenstellen. Zu Behandlungsbeginn stand das gegenseitige Kennenlernen zwischen Patientin und Behandlungsteam im Vordergrund. Das stabile Vertrauensverhältnis kann einen erheblichen Einfluss auf das Behandlungsergebnis haben. Bei einem Erstgespräch wurden die Bedürfnisse der Patientin sowie ihre monetären Möglichkeiten erfragt. Danach erfolgte die extra- und intraorale Analyse der Ausgangssituation. Die Mimik sowie die Ästhetik waren gestört und die vertikale Höhe stark abgesunken. Die Mundwinkel zeigten bereits Rhagaden, was generell ein Zeichen für einen zu tiefen Schlussbiss und eine Progenie ist. Die Profilaufnahme verdeutlichte die Problematik; es ist erkennbar, dass der Kinnpunkt nach cranial gerichtet ist und „vorspringt“. Von lateraler Ansicht waren die für diese Situation (abgesunkene Okklusion) typischen „runden“ Wangen erkennbar (Abb. 2). Die Patientin klagte über eine fehlende Okklusion, eine hohe Mobilität der Prothesen sowie eine stark veränderte Physiognomie und damit eine gestörte Ästhetik. Intraoral zeigten sich im Ober- sowie im Unterkiefer sichtbare Irritationen der Schleimhaut (Abb. 3a und b). Die Mukosa war stark gerötet. Der Gaumenbereich wies zudem eine weißliche Plaque – eine sogenannte „Prothesenstomatitis“ – auf. Der Alveolarkamm im Unterkiefer war stark zerklüftet. Der Grund für diese multiplen Beschwerdebilder waren die schlecht passenden Totalprothesen. Nach einem einfühlsamen Gespräch willigte sie in den Therapievorschlag einer Neuanfertigung der Prothesen ein. Die Option einer Implantat-getragenen Prothese war von der Patientin aus finanziellen Gründen nicht erwünscht.
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Abb. 1: Ausgangssituation. Ästhetisch sowie funktionell unzureichende Versorgung des zahnlosen Ober- sowie Unterkiefers.
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Abb. 2: Die Patientin mit sichtbaren Anzeichen einer gestörten Physiognomie.
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Abb. 3a und b: Irritationen der Mundschleimhaut. Starke Rötungen der Mukosa, im Gaumenbereich sind Anzeichen für eine „Prothesenstomatitis“ zu erkennen.
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Abb. 4 und 5: Die anatomisch gestalteten neo.lign-Konfektionszähne, bredent, bilden eine hervorragende Grundlage für einen ästhetischen und funktionellen Zahnersatz. Um den Ansprüchen der partiellen Prothetik Rechnung zu tragen, werden die neo.lign P als Quadranten-Set geliefert.
Behandlungsplan und die Konfektionszahnlinie neo.lign A P
Da wir in unserem Behandlungskonzept generell auf die enge Interaktion zwischen Zahnmediziner und Zahntechniker achten, wurde bereits vor der ersten Abformung der Zahntechniker hinzugezogen. Gemeinsam eruierten wir die Ausgangssituation und legten den Therapieplan fest. In unserem Konzept ist unter anderem die Konfektionszahnlinie neo.lign, bredent, Senden, ein Erfolgsparameter (Abb. 4 und 5). Neben der hervorragenden farblichen Adaption sowie der lebendigen Erscheinung der vierschichtigen Zähne bieten die natürliche morphologische Gestaltung sowie die Option einer „Zahn-zu-Zahn“- und einer „Zahn-zu-zwei-Zahn“-Kontaktbeziehung sehr gute Voraussetzungen. Das modifizierte hochmolekulare Polymer-Komposit ist die Grundlage für eine langzeitstabile Versorgung.
Erstabformung
In der zweiten Behandlungssitzung erfolgte die anatomische Abformung von Ober- sowie Unterkiefer, welche als Erst- oder Situationsabformung bezeichnet wird. Diese Abformung war Grundlage für die Herstellung der Situationsmodelle, auf denen wir die Löffel für die Funktionsabformung anfertigen wollten. Das Ziel der Funktionsabformung wiederum ist die Abformung der Prothesenbasis, maßgeblich für die Haftung (Adhäsion) der Prothesen am Kiefer verantwortlich. Die Erstabformung wird demnach zum Fundament für zufriedenstellende Totalprothesen. In diesem Fall kam ein speziell gestalteter Abformlöffel für zahnlose Kiefer zur Anwendung (Schreinemakers-Löffel). Die exakte Löffelgröße wurde mit einem zum System gehörenden Messzirkel evaluiert. Die Messpunkte lagen im Oberkiefer an den vestibulären Bereichen der Tuber maxillae sowie im Unterkiefer lingual der Trigona retromolaria. Durch die Wahl der exakten Löffelgröße wurde sichergestellt, dass Platz für ausreichend Abformmaterial (Schichtdicke zwischen zwei und drei Millimetern) vorhanden war. Unter Umständen kann nach einer Einprobe der Löffel mit etwas weichem Wachs oder Kerr-Masse angepasst werden. Die Abformung erfolgte mit einem Alginat, das exakt nach Herstellerangaben angemischt wurde. Bei der Abformung wurden das gesamte Prothesenlager sowie die angrenzenden Bereiche erfasst. Im Oberkiefer sind das der Mundvorhof, der harte Gaumen, der vordere Teil des weichen Gaumens, die Tuber maxillae und im Unterkiefer die Trigona retromolaria, der Mundvorhof sowie der linguale Raum.
Modellherstellung und Funktionsabformung
Um das exakte Vorgehen bei der Situationsabformung auch bei der Modellherstellung weiterzuführen, wurde auf die Einhaltung aller bekannten Arbeitsschritte geachtet. Hierzu gehört neben dem Bestreuen des Alginats mit Gipspulver (Neutralisierung der Alginsäure) auch die entsprechende Anmischung des Gipses. Jetzt folgten die Vorbereitungen für die Herstellung der Funktionslöffel. Untersichgehende Bereiche, die tiefste Stelle der Umschlagfalte sowie die AH-Linie wurden auf den Modellen markiert und die Ausdehnung des Löffels angezeichnet. Die Ränder des Funktionslöffels sollten etwa ein bis zwei Millimeter kürzer sein als der definitive extendierte Löffelrand. Im dorsalen Bereich des Oberkiefers wurde die Länge etwa 1,5 Millimeter hinter der AH-Linie definiert (Abb. 6 und 7). Die Anzeichnungen auf dem Unterkiefermodell werden so gelegt, dass der Löffel die Linea mylohyoidea überdeckte und die retromolaren Dreiecke fasste. Vor dem Adaptieren des Löffelmaterials (lichthärtender Kunststoff, vorgefertigte Schablonen) wurden die untersichgehenden Bereiche mit Wachs ausgeblockt und das Modell isoliert. Von einem Löffelgriff – ähnlich wie bei konventionellen Abformlöffeln – ist abzuraten, da hierbei die Lippenbewegungen irritiert werden können. Je nach Vorlieben des Zahnmediziners sind bilaterale Stopps im Molarenbereich sowie eine Art Halter im Gaumenbereich dienlich.
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Abb. 6 und 7: Ober- und Unterkiefermodell mit der entsprechenden Anzeichnung für den Funktionslöffel.
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Abb. 8 und 9: Funktionslöffel (Ober- und Unterkiefer) mit Wachsplatzhalter.
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Abb. 10 und 11: Funktionslöffel nach Schreinemakers auf dem Ober- und Unterkiefermodell.
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Abb. 12 und 13: Ausformen des Funktionsrands vor der eigentlichen Abformung mit einem thermoplastischen Material.
Die Ausarbeitung der Löffel erfolgte nach der Polymerisation. Jedwede scharfe Kanten wurden vermieden (Abb. 8 und 9) und letztlich die Bisswälle aufgebracht (Abb. 10 und 11). Während der Einprobe der Löffel im Mund der Patientin achteten wir darauf, dass ausreichend Beweglichkeit für die funktionelle Zungen- und Wangenbewegung gegeben war. Die für die einstrahlenden Bänder ausgeschliffenen Bereiche boten den Platz, den der Löffel für eine exakte Passung benötigte. Um Freiraum für die Abformmasse zu schaffen, wurden Stopps beziehungsweise Platzhalter angelegt. Für das Ausformen des Funktionsrandes vor der eigentlichen Abformung verwendeten wir ein thermoplastisches Kompositionsmaterial, Kerr Impression Compound, Kerr, Rastatt. Das Material in Stangenform wurde über der Spiritusfl amme erwärmt und an den Rändern sowie im Bereich der AH-Linie aufgetragen und eine erste Abformung ausgeführt. Diese wurde für gut befunden und konnte nun in einem auf circa 50 Grad Celsius erwärmten Wasserbad in plastischen Zustand versetzt und dann erneut in den Mund eingebracht werden. Mittels leichtem Ziehen und Rotieren der Wangen und Lippen adäquat zu ihrer Funktion konnte der Funktionsrand ausgeformt werden. Um den Zungenraum funktionsgetreu abzubilden (Abb. 12 und 13), führte die Patientin einige physiologische Zungenbewegungen durch. Erst jetzt waren die Löffel für die eigentliche Abformung bereit und konnten mit einem Haftmittel eingepinselt werden. Für die Abformung favorisieren wir ein hydrophiles A-Silikon, Flexitime, Heraeus Kulzer, Hanau, welches eine relativ kurze Abbindezeit hat. Nach dem Anmischen wurde das Silikon gleichmäßig auf dem Löffel verteilt und die empfohlene Schichtstärke von ein bis zwei Millimetern eingehalten. Ohne einen zu starken Druck auszuüben, konnten die Löffel in den Mund eingebracht und durch forcierte Bewegungen der Lippen und Wangen die physiologischen Gegebenheiten (Bänder et cetera) abgeformt werden. Die ausgehärtete Abformung zeigte weder ein Durchscheinen des Löffelmaterials noch Blasen oder sonstige Unzulänglichkeiten.
Anfertigung des Meistermodells und Vorbereitung der Biss- (Registrier-) Schablonen
Bevor die Abformungen in Gips ausgegossen werden konnten, zeichneten wir den Funktionsrand an. Zur Orientierung agierten wir nach folgender Formel: Abstand zum Rand sowie Breite des Randes gleich mindestens fünf Millimeter (Abb. 14 bis 16). Bei der Modellherstellung ist im Sinne eines effizienten Arbeitens ein Split-Cast-Sockel (SAM-Sockelplatten) zu empfehlen, welcher während der folgenden Arbeitsschritte ein einfaches Abnehmen des Modells vom Sockel gewährt (Abb. 17). Das Ausgießen der Abformungen erfolgte mit einem beigefarbenen (Hart-)Gips Klasse vier (Abb. 18). Beim Beschleifen (Trimmen) des ausgehärteten Modelles achteten wir darauf, dass die Funktionsränder vollständig erhalten blieben und die gedachte Okklusionsebene in etwa parallel zur Tischebene ausgerichtet war (Abb. 19 und 20); eine Anforderung, die bereits beim Sockeln beachtet wurde. Ein Kontrollsockel aus braunem Gips der Klasse vier rundete die Modellherstellung ab.
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Abb. 14 und 15: Die Funktionsabformungen mit angezeichneten Funktionsrändern.
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Abb. 16: Herstellung des Unterkiefer-Funktionsmodells.
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Abb. 17: Das Split-Cast-Sockel-System gewährt während der einzelnen Arbeitsschritte ein einfaches Abnehmen der Modelle.
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Abb. 18 und 19: Die Meistermodelle sind für die Anfertigung der Schablonen für Kieferrelationsbestimmung, Modellanalyse und nachfolgende Aufstellung vorbereitet.
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Abb. 20: Die sauber ausgearbeiteten Biss-Schablonen für die Kieferrelationsbestimmung.
Die Herstellung der Schablonen für die Bissregistrierung begann nach dem dünnen Ausblocken der untersichgehenden Bereiche. Nach der Isolierung wurden konfektionierte Kunststoffplatten auf das Modell adaptiert, die Lippen- sowie Wangenbänder ausgespart und die Basisplatten polymerisiert. Vor dem Aufbringen der Wachswälle überprüften wir den schaukelfreien und festen Sitz der Basisplatte auf dem Modell. Die Wachswälle wurden nun so in Höhe der Kieferkamm-Mitte aufgebracht, dass sie parallel zur gedachten Okklusionsebene sowie entsprechend dem Zahnbogen verliefen. Die Breite des Wachswalls gab in etwa die Breite der zu ersetzenden Zähne wieder. Für die Höhe orientierten wir uns im Oberkiefer an der Vorgabe der 22 Millimeter und im Unterkiefer an den empfohlenen 18 Millimetern. Um den Lippenverlauf annährend nachzubilden, war es im Oberkiefer hilfreich, den Wachswall nach labial auszuformen (vgl. Abb. 20).
Im zweiten Teil des Artikels in Ausgabe 11 des Internationalen Zahntechnik Magazins werden die Bissregistrierung und Kieferrelationsbestimmung ebenso beschrieben wie die Modellanalyse, Aufstellung sowie die Fertigstellung der Prothesen.